Zusammenfassung
Unter Polyneuropathien (PNP) versteht man Erkrankungen des peripheren Nervensystems, bei denen mehrere Nerven und/oder Nervenwurzeln unterschiedlicher Qualitäten durch eine systemische Störung geschädigt werden. Sie umfassen also neben Polyneuropathien im engeren Sinne auch Polyradikulopathien und kombinierte Polyneuroradikulopathien. Der Begriff „Polyneuropathie“ bezeichnet keine einheitliche Diagnose. Es handelt sich vielmehr um eine Gruppe klinisch ähnlicher Syndrome mit pathobiologischen Gemeinsamkeiten. Die möglichen Ursachen sind sehr vielfältig. Klinisch äußern sich die meisten Polyneuropathien mit langsam progredienten, distal an den Extremitäten (i.d.R. zuerst an den unteren Extremitäten) beginnenden, symmetrischen, sensiblen und im Verlauf auch motorischen Defiziten. Es existieren allerdings zahlreiche Ausnahmen von diesem häufigsten Muster. Die klinische Diagnose einer Polyneuropathie wird durch neurophysiologische Diagnostik untermauert, mit der sich die Art und das Ausmaß der Nervenschädigung genauer charakterisieren lassen. Die Prognose und insb. die Beantwortung der Frage nach einer möglichen Reversibilität der Schädigung hängt maßgeblich von diesen Informationen ab. Zur kausalen Therapie muss die zugrunde liegende Pathologie erkannt und, wenn möglich, behandelt werden. Die symptomatische Therapie erfordert in vielen Fällen eine Physiotherapie und/oder ggf. neuropathische Schmerztherapie.
Definition
- Polyneuropathie: Klinisches Erscheinungsbild einer ausgebreiteten , systemisch bedingten Schädigung peripherer Nerven
- Polyneuritis: Polyneuropathie mit explizit entzündlicher Genese
- Polyneuroradikulopathie: Klinisches Erscheinungsbild einer ausgebreiteten , systemisch bedingten Schädigung des peripheren Nervensystems mit Schwerpunkt auf den Nervenwurzeln
- Polyneuroradikulitis: Polyneuroradikulopathie mit explizit entzündlicher Genese
- Polyradikulopathie: Schädigung mehrerer Nervenwurzeln, die sich zwar auf die Funktion der daraus hervorgehenden peripheren Nerven auswirken kann, die peripheren Nerven aber nicht direkt betrifft
- Polyradikulitis: Polyradikulopathie mit explizit entzündlicher Genese
- Mononeuropathia multiplex (Polyneuropathie vom Multiplex-Typ): Polyneuropathie oder Polyneuroradikulopathie mit einzelnen stark betroffenen Nerven bei schwächerer oder fehlender Beeinträchtigung benachbarter Nerven [2]
- Mononeuritis multiplex: Mononeuropathia multiplex mit explizit entzündlicher Genese
Epidemiologie
Polyneuropathien insgesamt sind die häufigsten Erkrankungen des peripheren Nervensystems. Mit einem Anteil von 30–50% ist die diabetische Polyneuropathie die häufigste Form. [2][3][4]
- Prävalenz: 5–8% in der erwachsenen Bevölkerung [5][6]
- Inzidenz: Ca. 77/100.000 Personen über 18 Jahre, mit dem Alter zunehmend [7]
- 50–54 J.: 60/100.000
- 75–79 J.: 300/100.000
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
Die möglichen Ursachen der Polyneuropathien sind vielfältig, allerdings ist ihre Häufigkeitsverteilung sehr ungleichmäßig. So sind in westlichen Ländern Diabetes mellitus und chronischer Alkoholkonsum die mit Abstand häufigsten zugrunde liegenden Erkrankungen. [1][2]
Metabolisch/endokrin
- Diabetes mellitus: Diabetische Polyneuropathie [2][4]
- Urämie: Urämische Polyneuropathie
- Mangelernährung, z.B.
- Resorptionsstörungen, z.B.
- Vitamin-B12-Mangel durch Intrinsic-Faktor-Mangel
- Zöliakie
- Leberfunktionsstörungen, z.B. Leberzirrhose
- Hypothyreose (seltener Hyperthyreose), Akromegalie [2][8]
- Schwangerschaft [9]
Toxisch
- Alkohol: Alkohol-Polyneuropathie [2][5]
- Medikamente, insb. Chemotherapeutika (Zytostatika, Antibiotika ), antiretrovirale Medikation [2]
- Schwermetalle (Blei, Arsen, Thallium) [2]
- Lösungsmittel (z.B. Trichlorethylen)
Hereditär
- Hereditäre motorisch-sensible Neuropathien (HMSN)
- Hereditäre sensible und autonome Neuropathien (HSAN)
- Hereditäre motorische Neuropathien (HMN)
- Amyloidose
- Porphyrie
Inflammatorisch
- Guillain-Barré-Syndrom
- Chronisch-inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP)
- Critical-Illness-Polyneuropathie/Myopathie
- Vaskulitiden mit Beteiligung der Vasa nervorum, z.B.
- Weitere Kollagenosen, z.B.
- Rheumatoide Arthritis
- Weitere Granulomatosen, z.B. Churg-Strauss-Syndrom
- Polyneuropathie nach Bestrahlung (radiogene Polyneuropathie)
Infektiös
- Bakteriell, z.B.
- Viral, z.B.
- HSV: Bspw. Elsberg-Syndrom
- VZV [1]
- CMV
- HIV: HIV-Polyneuropathie
Paraproteinämisch/paraneoplastisch [10]
- Paraproteinämische Polyneuropathie bei monoklonaler Gammopathie durch [1][11]
- Paraproteinämische Polyneuropathie bei monoklonaler Gammopathie unklarer Signifikanz
- Paraneoplastische Polyneuropathie, z.B. Denny-Brown-Syndrom (subakute sensible Polyneuropathie), insb. beim kleinzelligen Lungenkarzinom (SCLC)
Neoplastisch
Idiopathisch
- Polyneuropathie ohne erkennbare oder nachweisbare Ätiologie trotz ausführlicher Abklärung
Pathophysiologie
Entsprechend dem breiten ätiologischen Spektrum können sehr viele verschiedene pathophysiologische Prozesse zur polyneuropathischen Schädigung führen. Auf der Endstrecke der verschiedenen möglichen Entstehungsprozesse der Polyneuropathien kommt es zur primär demyelinisierenden oder primär axonalen Nervenschädigung, die die klinischen Symptome hervorrufen. Beide können zu Beginn der klinisch-symptomatischen Erkrankungsphase vergleichsweise isoliert vorliegen (primär demyelinisierende oder primär axonale Polyneuropathie), parallel existieren (gemischte Polyneuropathie) oder im Krankheitsverlauf ineinander übergehen. [1][2]
Demyelinisierende Polyneuropathie [12]
Bei einer demyelinisierenden Polyneuropathie werden die Axone selbst anfänglich nicht geschädigt, weshalb eine Ausheilung durch Remyelinisierung abhängig vom Erkrankungsstadium grundsätzlich möglich ist.
- Langstreckige Myelinschädigung: Myelinopathie
- Schädigung der die Axone umgebenden Myelinschichten peripherer Nerven: Verlust eines Teils der Myelinschichten über einen längeren Nervenabschnitt
- Verringerung des elektrischen Widerstands und Verlangsamung der saltatorischen Erregungsleitung entlang der betroffenen Nervenabschnitte
- Längenabhängige Ausprägung der klinischen Symptome: Die längsten peripheren Nerven (i.d.R. zu den Beinen) sind am deutlichsten bzw. als erstes betroffen
- Zunächst unveränderte Gesamtzahl der erregbaren Axone
- Multifokale kurzstreckige Myelinschädigungen: Leitungsblöcke
- Höhergradige Myelinschädigungen als bei langstreckiger Myelinopathie: Fokal begrenzter hochgradiger Verlust der Isolationswirkung des Myelins
- Effektive Unterbrechung der Reizweiterleitung über die Myelinläsionen hinweg
Eine geringgradige Demyelinisierung über einen langen Nervenabschnitt führt zu einer Verlängerung der Leitungszeit (welche mit fortschreitender Demyelinisierung weiter zunimmt). Eine komplette Demyelinisierung auf kurzer Strecke führt hingegen zur effektiven Unterbrechung der Reizweiterleitung!
Axonale Polyneuropathie [12]
Bei einer axonalen Polyneuropathie werden primär die Axone selbst geschädigt, weshalb eine Ausheilung mangels ausreichender Regenerationsfähigkeit der Neurone grundsätzlich kaum möglich ist. Als Therapieziel steht daher i.d.R. die Verhinderung des Krankheitsfortschritts im Vordergrund.
- Axonopathie: Schädigung der innenliegenden Axone peripherer Nerven
- Verlust der Fähigkeit zur Generierung und Weiterleitung von Aktionspotenzialen entlang axonaler Membranen trotz erhaltener Myelinisierung
- Sinkende Gesamtzahl der erregbaren Axone
- Zunächst unveränderte Geschwindigkeit der Reizweiterleitung
Demyelinisierung und axonale Schädigung können parallel existieren (gemischte Polyneuropathie) bzw. ineinander übergehen! So können primär demyelinisierende Polyneuropathien bei anhaltender Ursache oder ohne effektive Regeneration des Myelins eine sekundäre axonale Degeneration nach sich ziehen, weil dauerhaft demyelinisierte Axone letztlich ebenfalls untergehen.
Symptomatik
Einteilung nach betroffenen Qualitäten [1][2]
Grundsätzlich kann zwischen der sensiblen und der sensomotorischen Polyneuropathie, jeweils mit oder ohne Beteiligung des vegetativen Nervensystems, unterschieden werden. Eine Polyneuropathie tritt nur in selteneren Fällen mit rein motorischen bzw. überwiegend motorischen Symptomen in Erscheinung.
Sensible (afferente) Symptome [13]
- Sensibilitätsausfälle, Missempfindungen und Schmerzen: Meist distal-symmetrisch mit Störung von
- Berührungsempfinden
- Parästhesien: Patient:innen beschreiben Kribbeln und „Ameisenlaufen“, oft vorrangig an den Fußsohlen
- Vibrationsempfinden [2]
- Tiefensensibilität
- Schmerzempfinden
- Temperaturwahrnehmung [2]
- Berührungsempfinden
- Burning-Feet-Syndrom: Insb. bei Small-Fiber-Polyneuropathie auftretende Symptomkombination aus
- Parästhesien der Fußsohlen (insb. als Kribbeln, „Ameisenlaufen“ und/oder Nadelstiche beschrieben)
- Brennenden neuropathischen Schmerzen
- Vasomotorischen Störungen der Haut (insb. Rötung, Hyperhidrosis) [14]
- Störungen des Stehens und Gehens : Sensible Ataxie mit Standataxie und Gangataxie
- Herabgesetzte Muskeleigenreflexe : Hyporeflexie, Areflexie
Motorische (efferente) Symptome [13]
- Muskuläre Denervierungszeichen: Muskelatrophie, Faszikulationen, auch Muskelkrämpfe
- Schlaffer Muskeltonus (muskuläre Hypotonie)
- Periphere Paresen: Bspw. Paraparese der Beine, Tetraparese
Vegetative Symptome (Auswahl) [15]
- Orthostatische Dysregulation
- Trophikstörung der Haut
- Vasomotorische Störungen der Haut, Hyper-/Hypohidrosis
- Störungen der Blasenkontrolle, ggf. Mastdarmkontrolle
Störungen des Vibrationsempfindens, der Temperaturwahrnehmung und herabgesetzte Eigenreflexe (insb. Achillessehnenreflex) gehen insb. bei diabetischer Polyneuropathie den weiteren möglichen Symptomen häufig voraus!
Einteilung nach anatomischem Verteilungsmuster [2]
Den verschiedenen PNP-Verteilungsmustern sind im Folgenden charakteristische Grunderkrankungen beispielhaft zugeordnet. Diese treten zwar häufig, aber keineswegs ausschließlich im genannten Muster auf.
Symmetrisches Verteilungsmuster
- Distal-symmetrische Polyneuropathie (sensomotorisch) , z.B. Alkohol-Polyneuropathie, auch diabetische Polyneuropathie (in der Mehrzahl der Fälle)
- Typischerweise strumpf- oder handschuhförmig ausgedehnte Sensibilitätsstörungen bzw. schmerzhafte Areale
- Distal und symmetrisch beginnende motorische Symptome, i.d.R. zunächst an den Beinen
- Spezialfall: Distal-symmetrische Small-Fiber-Polyneuropathie (sensibel, vegetativ)
- Symmetrische Polyneuropathie mit früher proximaler Beteiligung, z.B. im Rahmen der Critical-Illness-Polyneuropathie/Myopathie (CIP/CIM, Kombination aus Polyneuropathie und primärer Myopathie; sensomotorisch)
- Frühe Beteiligung der proximalen Extremitäten [16][17][18]
- Spezialfall: Polyneuropathie der lumbosakralen Spinalnerven (Kaudasyndrom, u.a. mit Reithosenanästhesie), z.B. als Elsberg-Syndrom
- Symmetrische Polyneuroradikulopathie, z.B. Guillain-Barré-Syndrom, chronisch-inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP)
- Motorische Ausfälle und sensible Defizite, die symmetrisch verteilt ganze Dermatome betreffen können
- Insb. bei rasch-progredientem Verlauf mit dem Risiko für gefährliche Lähmungen, z.B. Atemlähmungen
Asymmetrisches Verteilungsmuster [13]
- Mononeuropathia multiplex, z.B. bei Vaskulitiden, Kollagenosen, Diabetes mellitus oder Meningeosis neoplastica
- Schwerpunktneuropathie: Kombination aus Mononeuropathia multiplex und distal-symmetrischem Typ, z.B als diabetische Schwerpunktneuropathie
- Asymmetrische Polyradikulopathie, z.B. bei Neuroborreliose [19][20]
- Oft entlang mehrerer einzelner Dermatome verteilte neuropathische Schmerzen und Sensibilitätsstörungen, seltener motorische Symptome
- Fluktuation der Ausprägung/der betroffenen Dermatome möglich
Diagnostik
Die Diagnose einer Polyneuropathie wird klinisch gestellt und durch elektrophysiologische Untersuchungen unterstützt . Die Diagnostik sollte strukturiert nach bestimmten Gesichtspunkten erfolgen. [13]
- Syndromatische Zuordnung der PNP: Feststellung und Beschreibung des Polyneuropathie-Syndroms
- Klinische Feststellung des Polyneuropathie-Syndroms
- Betroffene Qualitäten?
- Anatomisches Verteilungsmuster?
- Vegetative Mitbeteiligung?
- Beginn und zeitliche Dynamik?
- Ausmaß der Behinderung?
- Risikofaktoren?
- Elektrophysiologische Bestimmung des Schädigungsmusters
- Demyelinisierende vs. axonale Schädigung?
- Ausmaß/Prognose der elektrophysiologischen Funktionsstörung?
- Evtl. zusätzliche vegetative Funktionstestungen
- Klinische Feststellung des Polyneuropathie-Syndroms
- Ätiologische Abklärung der PNP: Diagnostik zugrunde liegender Erkrankungen
- Abklärung häufigster Polyneuropathie-Ursachen
- Evtl. Suche nach selteneren Polyneuropathie-Ursachen
Syndromatische Zuordnung
Klinische Diagnostik
Anamnese [13]
- Beginn und Dynamik
- Wie lange bestehen die Beschwerden?
- Schleichender oder akuter Beginn? Ggf. infolge einer Infektionskrankheit?
- Fluktuation der Beschwerden? Treten sie evtl. schubweise auf?
- Beschreibung der Beschwerden und Symptome
- Liegen neuropathische Schmerzen vor? Wenn ja, in welcher Qualität, Intensität und Lokalisation?
- Ist Gehen in der Dunkelheit noch möglich?
- Bestehen Schwierigkeiten beim Treppensteigen oder Aufstehen aus der Hocke?
- Liegen Einschränkungen der Feinmotorik vor?
- Kam es zu unbemerkten Bagatellverletzungen insb. der Füße?
- Kam es bereits zu Stürzen?
- Bei Angabe von Schwindel siehe auch: Schwindel - Anamnese
- Expositionsanamnese
- Liegt ein erhöhter und/oder chronischer Alkoholkonsum vor?
- Medikamentenanamnese, insb. Frage nach (früherer) Einnahme potenziell neurotoxischer Medikamente
- Bestand/Besteht Umgang mit Gift- oder Gefahrstoffen?
- Familienanamnese: Familienmitglieder mit ähnlichen Beschwerden oder einer bekannten Polyneuropathie?
- Medizinische Vorgeschichte (systemische Anamnese), insb. Frage nach
- Internistischen Vorerkrankungen, insb. Diabetes mellitus, Autoimmunerkrankungen, Kollagenosen, Infektionen
- Neurologischen Vorerkrankungen
- Beschreibung der sportlichen Fähigkeiten im Kindesalter für mögliche Hinweise auf eine hereditäre Polyneuropathie
- Onkologischen Vorerkrankungen
Viele Polyneuropathie-Betroffene klagen primär über Schwindel, was nicht zur unnötigen Verzögerung der korrekten Diagnosestellung führen sollte!
Polyneuropathien sind häufig, sodass polyneuropathische Symptome nicht selten mit anderen neurologischen Symptomen vermischt sind; zur Unterscheidung ist eine möglichst genaue Kenntnis der neurologischen Vorgeschichte sehr wichtig!
Klinisch-neurologische Untersuchung [13]
Zur Diagnostik einer Polyneuropathie gehört eine vollständige neurologische Untersuchung, mindestens jedoch eine orientierende neurologische Untersuchung aller Funktionssysteme, um angrenzende Krankheitsbilder oder entscheidende Zusatzsymptome (z.B. Hirnnervenausfälle) zu erkennen. Im Folgenden sind die Funktionssysteme aufgeführt, die in jedem Fall fokussiert untersucht werden müssen.
Sensibilitätsprüfung, Reflexstatus
- Fragestellung
- Welche sensiblen Wahrnehmungsqualitäten sind betroffen?
- Liegen symmetrische Ausfall- oder Reizerscheinungen vor, typischerweise distal strumpf- oder handschuhförmig ausgeprägt?
- Besteht evtl. ein anatomischer Bezug zu einzelnen peripheren Nerven oder Dermatomen?
- Abgrenzung kompressiver Radikulopathien (z.B. bei Bandscheibenvorfällen oder LWS-Degeneration) von Polyradikulopathien
- Isolierte Sensibilitätsstörungen in sakralen Dermatomen : Hinweis insb. auf entzündliche Polyneuropathien
- Sind die Muskeleigenreflexe abgeschwächt, insb. distal?
- Untersuchung: Im Seitenvergleich mit besonderem, aber nicht ausschließlichem Augenmerk auf die anamnestisch betroffenen Regionen
- Berührungsempfinden
- Zwei-Punkt-Diskrimination (räumliches Auflösungsvermögen)
- Eingrenzung von Parästhesien
- Vibrationsempfinden
- Tiefensensibilität: Bewegungssinn, Lagesinn
- Schmerzempfinden
- Eingrenzung von (neuropathisch) schmerzhaften Hautarealen
- Temperaturempfinden
- Muskeleigenreflexprüfung
- Berührungsempfinden
Untersuchung der Motorik
- Fragestellung
- Liegen symmetrische schlaffe Paresen vor?
- Besteht evtl. ein anatomischer Bezug zu einzelnen peripheren Nerven oder Nervenwurzeln?
- Untersuchung: Im Seitenvergleich mit besonderem, aber nicht ausschließlichem Augenmerk auf die anamnestisch betroffenen Regionen
Zentral-motorische Symptome (z.B. Tonussteigerung, Halbseitensymptome, Reflexsteigerung) sollten nicht vorhanden bzw. als eindeutig vorbestehend bekannt sein!
Stand- und Gangprüfung
- Fragestellung
- Suche nach Zeichen einer sensiblen Ataxie durch Läsion peripherer sensibler Nerven: Liegt eine sensible Standataxie oder Gangataxie vor?
- Zeigen sich evtl. Störungen erst bei Dunkelheit oder geschlossenen Augen?
- Untersuchung
- Standprüfung
- Systematische Ganguntersuchung: Insb. Beurteilung von
- Beinführung, Schrittlänge und Schrittform: Liegt ein breitbasiger Gang vor, sind die Schritte evtl. verkürzt?
- Gleichgewicht: Sind ungerichtetes Schwanken/Abweichen von der Ideallinie und/oder Ausfallschritte zu erkennen?
- Spezifischen peripher-paretischen Gangbildern
Orientierende vestibuläre und zerebelläre Untersuchung
Die orientierende vestibuläre und zerebelläre Untersuchung dient insb. der Einordnung der evtl. Beschwerde Schwindel sowie bei motorischen Symptomen dem Ausschluss anderer wichtiger Ursachen für eine Standataxie und/oder Gangataxie.
- Vestibuläre Funktionsprüfung, mind.
- Zerebelläre Funktionsprüfung, mind.
- Beurteilung der Blickfolge
- Knie-Hacke-Versuch bei geschlossenen und offenen Augen
- Finger-Nase-Versuch/Finger-Folge-Versuch
Insb. bei Angabe von Schwindel sollte eine unauffällige vestibuläre und zerebelläre Untersuchung vorliegen!
Klinisch-syndromatische Zuordnung
Anhand der anamnestischen Informatioen und der klinischen Untersuchungsbefunde lassen sich fünf typische Polyneuropathieformen unterscheiden, die eine erste grobe ätiologische Einordnung ermöglichen. Im Folgenden sind die wichtigsten Charakteristika dieser Formen aufgeführt: [13][21]
- Langsam fortschreitende, distal-symmetrische, vorwiegend sensible Polyneuropathie
- Häufigster Subtyp
- Wahrscheinlichste Ursachen: Stoffwechselerkrankungen (insb. Diabetes mellitus), chronischer Alkoholkonsum, neurotoxische Medikamente (z.B. Chemotherapeutika)
- Polyneuropathie mit raschem Beginn, oft deutlicher Progredienz und/oder proximaler Beteiligung
- Eher seltener, aber dringlich bzw. notfallmäßig zu behandelnder Subtyp
- Klinische Merkmale einer erworbenen immunvermittelten Polyneuropathie (insb. Guillain-Barré-Syndrom)
- Polyneuropathie mit multifokalen Symptomen, neuropathischen Schmerzen und autonomer Dysfunktion, häufig rasch fortschreitend
- Eher seltener Subtyp, jedoch mit Notwendigkeit zur ausführlichen Diagnostik
- Häufig assoziiert mit zugrunde liegender Vaskulitis , Amyloidose oder als paraneoplastisches neurologisches Syndrom
- Sensibel-ataktische Neuropathie
- Eher seltener Subtyp, jedoch mit Notwendigkeit zur ausführlichen Diagnostik
- Häufig assoziiert mit chronischen Autoimmunerkrankungen (z.B. Sjögren-Syndrom), mitochondrialen Störungen oder als paraneoplastisches neurologisches Syndrom (Denny-Brown-Syndrom)
- Langsam fortschreitende Polyneuropathie mit Muskelatrophien und Fußdeformitäten
- Seltener Subtyp, genaue Familienanamnese wichtig
- Frühe motorische Beteiligung und typische Fußdeformitäten deuten auf hereditäre Genese
Weiterführende Diagnostik
Neurophysiologische Diagnostik [12][13][21][22]
Die neurophysiologische Diagnostik unterstützt die klinische Diagnose und beantwortet die Frage, ob eine demyelinisierende oder eine axonale Schädigung vorliegt und welches Ausmaß diese hat.
Elektroneurografie (ENG)
- Fragestellung
- Sind die klinisch betroffenen Nerven in ihrer elektrophysiologischen Funktion geschädigt und wenn ja, wie sehr?
- Sind sensible und/oder motorische Nerven betroffen?
- Liegt eine axonale oder eine demyelinisierende Nervenschädigung vor?
- Untersuchung
- Mind. der klinisch betroffenen sensiblen und motorischen Nerven
- Idealerweise Durchführung einer elektroneurografischen Standarduntersuchung an beiden Beinen und Armen
Elektroneurografische Standarduntersuchung bei V.a. Polyneuropathie [13] | ||
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Parameter | Messungen | |
Motorische Neurografie |
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Sensible Neurografie |
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Die (sensitive) Messung der sensiblen Nervenleitgeschwindigkeit sollte an der unteren Extremität an N. suralis und N. fibularis superficialis, an der oberen Extremität an N. medianus und N. ulnaris erfolgen. Diese Nerven sind der Messung leicht zugänglich und i.d.R. früh betroffen (insb. N. suralis und N. fibularis superficialis)!
Elektromyografie (EMG)
Die Elektromyografie liefert Hinweise auf Vorhandensein und Ausmaß einer sekundären, neurogenen Muskelschädigung.
- Indikation: Bei klinischen motorischen Defiziten oder bei Auffälligkeiten in der motorischen Neurografie ohne eindeutige klinische motorische Defizite [13]
- Fragestellung
- Hat ein motorischer Nervenschaden zu sekundären Muskelschäden geführt?
- Wenn ja, wie groß ist deren Ausmaß?
- Untersuchung: Mind. der klinisch betroffenen Kennmuskeln
- Suche nach pathologischer Spontanaktivität (PSA) in ruhenden Muskeln
- Beurteilung der Amplitude und der Anzahl der Phasendurchgänge der Potenziale motorischer Einheiten (PmE) bei halbmaximaler Willküranspannung
- Beurteilung des Interferenzmusters
Typische neurophysiologische Untersuchungsbefunde
Polyneuropathie – Übersicht typischer elektrophysiologischer Untersuchungsbefunde bei axonaler und demyelinisierender Schädigung | |||
---|---|---|---|
Schädigungsmuster | Elektroneurografie (ENG) | Elektromyografie (EMG) | Beispielerkrankungen |
Demyelinisierende Polyneuropathie |
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|
|
|
Insb. bei hereditären Polyneuropathien besteht oft eine große Diskrepanz zwischen deutlich pathologischen elektrophysiologischen Befunden und ggf. (noch) milden Beschwerden und klinischen Symptomen!
Vegetative Funktionstestungen
- Indikationen
- Klinisch vorhandene, insb. distal-sensible und/oder schmerzhafte Polyneuropathie ohne Nachweis eines Schadens in der Elektroneurografie
- Vorrangig vegetative Funktionsstörung, z.B.
- Sekundäres posturales orthostatisches Tachykardie-Syndrom (POTS)
- Klinisch manifeste Schweißsekretionsstörung
- Fragestellung: Liegt evtl. eine isolierte oder zusätzliche Small-Fiber-Polyneuropathie mit Schädigung schmalkalibriger vegetativer (und ggf. schmerzleitender) Fasern vor? [13]
- Untersuchungen (Auswahl) [13]
- Bestimmung der Herzfrequenzvariabilität mittels Schellong-Test und Kipptisch-Untersuchung
- Quantitative Schweißsekretionsanalyse mittels Sudometrie
Bei klinischen Hinweisen auf eine (insb. distal-sensible und/oder schmerzhafte) Polyneuropathie ohne elektrophysiologischen Nachweis können quantitative sensorische und autonome Funktionsprüfungen (z.B. Sudometrie) sehr hilfreich sein, um eine Small-Fiber-Polyneuropathie zu diagnostizieren und sogar die früher übliche Biopsie überflüssig zu machen!
Vollständige syndromatische Zuordnung
- Vollständige Zuordnung nach Anamnese, Untersuchung und Elektrophysiologie inkl. folgender Informationen
- Zeitliche Dynamik
- Lokalisation
- Betroffene Qualität(en)
- Schädigungsmuster
- Beispiele
- Langsam-progrediente, distal-symmetrische und beinbetonte, führend sensible sensomotorische, demyelinisierende Polyneuropathie
- Rasch-progrediente, auch proximal ausgeprägte, schlaff-tetraparetische sensomotorische, demyelinisierende Polyneuroradikulopathie mit Reflexausfällen
Bei einem akut aufgetretenen und rasch-progredienten polyneuropathischen Syndrom muss ein mögliches Guillain-Barré-Syndrom immer vorrangig bedacht bzw ausgeschlossen werden! (Siehe auch: Guillain-Barré-Syndrom - Diagnostik)
Ätiologische Abklärung
Die Diagnose der PNP-Ursachen gelingt nach syndromatischer Zuordnung über die stufenweise Abklärung der für das PNP-Syndrom wahrscheinlichsten Ätiologien. Dazu werden immer Blut- und Urinuntersuchungen sowie häufig zur Erstabklärung auch eine Liquordiagnostik benötigt. In Einzelfällen können molekulargenetische Untersuchungen, Nerv-Muskel-Biopsie oder Hautbiopsie sowie weiterführende Blutuntersuchungen erforderlich sein.
Grundlegende Blutuntersuchung [13]
- Großes Blutbild, CRP, ggf. ANCAs
- Elektrolythaushalt: Insb. Natrium, Kalium, Calcium
- Glucosestoffwechsel: Nüchternblutzucker, HbA1c, Blutzuckertagesprofile, ggf. OGTT
- Nierenfunktionsparameter: Harnstoff, Kreatinin, GFR
- Leberfunktionsparameter: Insb. ALT, AST
- Serumprotein- und Immunelektrophorese: U.a. Suche nach monoklonaler Gammopathie
- TSH
- Vitamin B12, Methylmalonsäure
- Gerinnungsparameter: INR/Quick, pTT
- HIV-Serologie
Urindiagnostik
- Suche nach Bence-Jones-Proteinurie
- Ggf. Suche nach toxischen Substanzen
Liquordiagnostik [13]
Die Liquordiagnostik ist kein Standardbestandteil der Abklärung von Polyneuropathien, sondern kommt zum Einsatz, wenn entweder keine anderweitigen wegweisenden Befunde erhoben werden konnten oder wenn der V.a. eine Erkrankung mit typischem liquordiagnostischen Befund besteht (z.B. Guillain-Barré-Syndrom).
- Voraussetzung für die Lumbalpunktion
- Ausreichende Gerinnungsfunktion und
- Ausschluss bildgebender oder klinischer Hirndruckzeichen
- Befundung
- (Lymphozytäre) Pleozytose: Deutet am ehesten auf virale, atypisch-bakterielle oder autoimmunologische Inflammation des Nervensystems hin
- Erhöhte Proteinkonzentration
- Milde Erhöhung (≤50 mg/dL): Relativ unspezifischer Befund im Kontext einer polyneuropathischen Gewebedegeneration
- Zytoalbuminäre Dissoziation: Wegweisender Befund für autoimmun-entzündliche Polyneuropathien, siehe: GBS, CIDP
- Erhöhte Glucosekonzentration: Evtl. unterstützender Befund für die Diagnose eines (schlecht eingestellten) Diabetes mellitus
- Maligne Zellen: Deuten auf eine Meningeosis neoplastica (meist Meningeosis carcinomatosa) als Ursache einer Polyradikulopathie hin
- Für weiterführende Informationen siehe auch: Liquordiagnostik - Befundübersicht
Für eine evtl. spätere Erweiterung der Diagnostik sollten zusätzliche Serum- und Liquorproben asserviert werden!
Spezielle Labordiagnostik in Serum und ggf. Liquor [13]
Die spezielle Labordiagnostik kommt zum Einsatz, wenn der V.a. eine entzündlich und möglicherweise infektiös bedingte Polyneuropathie besteht oder wenn in einer vorangegangenen Liquoruntersuchung eine Pleozytose oder eine zytoalbuminäre Dissoziation nachgewiesen wurde.
- Erregerdiagnostik: Antikörpernachweis (IgM, IgG) , ggf. direkter Erregernachweis über PCR
- Autoantikörper, siehe: Guillain-Barré-Syndrom - Diagnostik und Diagnostik der CIDP
Erweiterte Diagnostik [13][23]
- Nerven-Muskel-Biopsie: Hilfreich bzw. notwendig, wenn eine Polyneuropathie mit anderen Mitteln ätiologisch nicht zuzuordnen ist
- Hautbiopsie: Typischerweise bei V.a. Small-Fiber-Polyneuropathie indiziert
- Molekulargenetische Diagnostik: Bei V.a. hereditäre Polyneuropathie
- Bildgebende Diagnostik (Nervensonografie, MRT): Kann in Einzelfällen bspw. zur Unterscheidung zwischen entzündlichen und hereditären Polyneuropathien beitragen
Charakteristika spezieller Polyneuropathien (Auswahl)
Diabetische Polyneuropathie [2]
- Pathophysiologie: Multifaktoriell, insb. [5]
- Schädigung des Endothels der Vasa nervorum durch nicht-enzymatische Glykierung mit folgender Trophikstörung
- Gestörter mitochondrialer Stoffwechsel und endoneuronale Hypoxie
- Oxidativer Stress
- Hypothetisch: Sorbitolakkumulation durch alternative Glucoseverstoffwechselung bei Hyperglykämie mit folgender Erschöpfung der neuronalen Natrium-Kalium-ATPase
- Verteilungsmuster (auch in Kombination möglich)
- Längenabhängige, distal-symmetrische Polyneuropathie
- Mononeuropathia multiplex, häufig auch Hirnnervenbeteiligung (insb. N. oculomotorius und N. abducens)
- Autonome Polyneuropathie
- Schädigungsmuster: Initial oft demyelinisierende, im Verlauf auch axonale Schädigung
- Symptome
- Sensibilitätsstörungen mit häufig früher Störung von Vibrationsempfinden und Temperaturwahrnehmung
- Burning-Feet-Syndrom mit nächtlicher Beschwerdeprogredienz
- Paresen, auch diabetische Amyotrophie: Proximale motorische Parese bei meist intakter Sensibilität, zu Beginn deutlich schmerzhaft
- Vegetativ-trophische Störungen: Anhidrose, Ödeme, Ulzera
- Autonom-viszerale Störungen: Impotenz, Gastroparese, postprandiale Diarrhöen, Ruhetachykardie, Pupillenstörung
Exogen-toxische Polyneuropathien [2]
Alkohol-Polyneuropathie [2]
- Pathophysiologie: Nicht in allen Details geklärt, aber sicher multifaktoriell, u.a.
- Verteilungsmuster: Längenabhängige, distal-symmetrische Polyneuropathie
- Schädigungsmuster: I.d.R. führend axonale Polyneuropathie
- Symptome
- Sensibilitätsstörungen (insb. des Lagesinns), Burning-Feet-Syndrom
- Distal beinbetonte Atrophien, Paresen und Areflexie der Unterschenkelmuskulatur, Wadenkrämpfe
- Vegetativ-trophische Störungen: Hyperpigmentierte, anhidrotische und atrophische Haut
Lösungsmittelbedingte Polyneuropathie [2]
- Pathophysiologie
- Bzgl. einzelner Stoffe siehe: Erkrankungen durch organische Lösungsmittel
- Auftreten von Beschwerden in zeitlichem Zusammenhang zur Exposition
- Verteilungsmuster
- Typischerweise symmetrische, distal betonte Polyneuropathie
- Bei einem anderen Verteilungsmuster sind Lösungsmittel als Ursache unwahrscheinlich
- Schädigungsmuster: Oft vorrangig axonale Polyneuropathie oder gemischte axonal-demyelinisierende Polyneuropathie [24]
- Symptome: Typischerweise initial überwiegend sensible, später sensomotorische Ausfälle
Eine Manifestation der Polyneuropathie nach Beendigung der Exposition mit organischen Lösungsmitteln spricht eher gegen einen ursächlichen Zusammenhang!
Inflammatorische Polyneuropathien
- Siehe:
Hereditäre Polyneuropathien (Auswahl) [2]
Hereditäre motorisch-sensible Neuropathien (HMSN)
- Gemeinsame Merkmale
- Distal beginnende und nach proximal fortschreitende Paresen und Atrophien, später Sensibilitätsstörungen
- Bei HMSN Typ I, III und IV: Hypertrophe Neuropathie mit Zwiebelschalenformationen in der Nervenbiopsie, die ein pathologisches Korrelat immer wiederkehrender De- und Remyelinisierungen sind
- HMSN Typ I (Syn.: Charcot-Marie-Tooth-Krankheit (CMT), „demyelinisierende CMT“, CMT Typ I)
- Verteilungsmuster: Distal-symmetrische Polyneuropathie
- Schädigungsmuster: Demyelinisierende Schädigung mit Reduktion der Nervenleitgeschwindigkeit, hypertrophe Neuropathie
- Symptome
- Zunächst motorische, später motorisch-sensible Polyneuropathie mit Atrophie der Wadenmuskulatur („Storchenbeine“) und charakteristischer Hohlfußbildung
- Befall der Handmuskulatur i.d.R. erst nach vielen Jahren
- HMSN Typ II (Syn.: „Axonale CMT“, CMT Typ II)
- Verteilungsmuster: Distale Polyneuropathie
- Schädigungsmuster: Axonale Schädigung ohne signifikante Reduktion der Nervenleitgeschwindigkeit, keine hypertrophe Neuropathie
- Symptome: Sehr ähnlich der HMSN Typ I, Verlauf jedoch eher langsamer
- HMSN Typ III (Syn.: Dejerine-Sottas-Krankheit )
- Verteilungsmuster: Distal-symmetrische Polyneuropathie
- Schädigungsmuster: Demyelinisierende Schädigung mit stark reduzierter Nervenleitgeschwindigkeit, hypertrophe Neuropathie mit tastbaren Verdickungen der Nerven
- Symptome: Sehr ähnlich der HMSN Typ I, aber stärker ausgeprägt und mit Beginn bereits im Kleinkindesalter (motorische Entwicklungsverzögerung)
- HMSN Typ IV (Syn.: Refsum-Syndrom, periphere Neuropathie mit zerebellärer Degeneration)
- Pathophysiologie: Schädigung neuronalen und glialen Gewebes infolge einer Akkumulation von Phytansäure
- Verteilungsmuster: Distale asymmetrische Polyneuropathie mit langsamer Ausbreitung nach proximal
- Schädigungsmuster: Gemischte Polyneuropathie mit axonaler und segmentaler demyelinisierender Schädigung mit deutlich verlangsamter Nervenleitgeschwindigkeit, hypertrophe Neuropathie
- Symptome
- Motorisch-sensible Polyneuropathie , zudem zerebelläre Ataxie in späteren Stadien
- Retinitis pigmentosa, Anosmie, Ertaubung und Ichthyosis
- Autonom-viszerale Störungen: Exazerbationen mit gefährlichen Herzrhythmusstörungen in Stresssituationen möglich
- HMSN Typ V: HMSN mit Schädigung des 1. Motoneurons (Syn.: „CMT mit Pyramidenbahnzeichen“)
- Beginn im Kindesalter, Symptome ähnlich der HMSN Typ I in Kombination mit Pyramidenbahnzeichen, Hör- und Sehstörungen
- HMSN Typ VI: HMSN mit Atrophie des N. opticus
- Symptome der Charcot-Marie-Tooth-Krankheit in Kombination mit Sehstörungen bis zur Erblindung
- HMSN Typ VII: HMSN mit Retinitis pigmentosa
- Symptome wie bei HMSN Typ VI
Hereditäre sensible und autonome Neuropathien (HSAN) [25]
- Unterformen: Zahlreiche Genotypen bekannt, die aktuell 6 klinischen Phänotypen (HSAN I–VI) zugeordnet werden können
- Gemeinsame Merkmale [24]
- Störungen des Schmerz- und Temperaturempfindens sowie dadurch bedingte Verletzungen und Deformitäten
- Neuropathische Schmerzen
- Verschiedene autonome Regulationsstörungen (z.B. Schweißsekretionsstörung bei HSAN IV und V)
Hereditäre motorische Neuropathien (HMN) [26]
- Gruppe sehr seltener Erkrankungen mit Degeneration der peripheren motorischen Nerven(anteile)
- Gemeinsame Merkmale: Längenabhängige progressive schlaffe Lähmungen und Muskelatrophie
Hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Drucklähmungen (tomakulöse Neuropathie, Hereditary Neuropathy with Liability to Pressure Palsies, HNPP) [2]
- Pathophysiologie
- Gendefekt führt zu erhöhter Anfälligkeit für funktionell relevante Myelinschädigungen nach Druckeinwirkung
- Bildung „wurstförmiger“ Verdickungen der Myelinscheiden durch häufige und parallele De- und Remyelinisierungsprozesse
- Verteilungsmuster: Rezidivierende Mononeuropathien oder Mononeuropathia multiplex meist oberflächlich gelegener motorischer oder gemischter Nerven
- Schädigungsmuster: Demyelinisierende Schädigung im Sinne multifokaler Leitungsblöcke
- Symptome: Fokale Paresen nach Bagatelltraumen oder nicht-traumatischer Druckeinwirkung, die sich i.d.R. vollständig zurückbilden
- Therapie: Präventive Therapie (Meidung von Druckschäden, z.B. durch Polsterung)
Polyneuropathie bei akuter intermittierender Porphyrie [24]
- Verteilungsmuster
- Mononeuropathia multiplex
- Distal beginnende und aufsteigende, meist asymmetrische Polyneuropathie (Mononeuropathia multiplex), auch akute proximale Paresen möglich
- Symptome: Schlaffe Paresen, Hypästhesien, Parästhesien
Polyneuropathie bei Amyloidose [24]
- Symptome
- Distale sensomotorische Polyneuropathie
- Variable trophische und autonom-viszerale Störungen, im späteren Verlauf auch Paresen
Small-Fiber-Polyneuropathie [2][13][14]
Die klinische Erscheinungsform der Small-Fiber-Polyneuropathie ist nicht einer einzelnen Ätiologie zuzuordnen, sondern kann durch verschiedene Ursachen bedingt sein, die auch zu typischen („Large-Fiber“‑)Polyneuropathien führen können.
- Definition: Polyneuropathie der kleinen und kleinsten unmyelinisierten distalen Nervenfasern in Haut (somatosensible Fasern) und/oder Organen (autonome Fasern)
- Ätiologie (Auswahl)
- Diabetes mellitus
- Vitamin-B12-Mangel
- Verschiedene Autoimmunerkrankungen, z.B. Sjögren-Syndrom
- Verschiedene Bindegewebserkrankungen, z.B. Ehlers-Danlos-Syndrom
- Virale Infektionen, bspw. Hepatitis C oder HIV
- Verteilungsmuster
- Distale, oft beinbetonte Polyneuropathie (autonomer Fasern und unmyelinisierter Schmerzfasern)
- Asymmetrisches Verteilungsmuster möglich, z.B. als autonome bzw. schmerzbetonte Polyneuropathie im Kontext einer diabetischen Schwerpunktneuropathie
- Symptome
- Sensibilitätsstörungen, insb. von Schmerz und Temperaturempfinden
- Oft brennende neuropathische Schmerzen der Füße und Hände (Burning-feet-Syndrom), Hyperalgesie
- Hypästhesie, Allodynie, Parästhesien, Störung der Thermästhesie
- Autonom-viszerale Regulationsstörungen
- Störung der Kreislaufregulation, z.B. posturales Tachykardiesyndrom
- Störung der Schweißsekretion
- Sensibilitätsstörungen, insb. von Schmerz und Temperaturempfinden
Differenzialdiagnosen
- Vaskuläre Störung: Periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK)
- Klinische Abgrenzung: Eher belastungsabhängige Schmerzen und selten vordergründige Sensibilitätsausfälle
- Diagnosestellung: I.d.R. über farbkodierte Duplexsonografie
- Radikuläre Kompression
- Klinische Abgrenzung: Auf Dermatome bzw. radikuläre Kennmuskeln bezogene Symptome, keine längenabhängigen Symptome
- Diagnosestellung: Über radiologische Bildgebung der Wirbelsäule
- Beispiele: Bandscheibenvorfall , Sinterungsfraktur der Wirbelkörper
- Rückenmarkserkrankungen mit Störung einzelner oder mehrerer Bahnsysteme, z.B.
- Funikuläre Myelose
- Klinische Abgrenzung: Im Frühstadium klinisch oft nicht oder nur schwer von einer Polyneuropathie zu unterscheiden, im Spätstadium Zeichen einer Schädigung des 1. Motoneurons möglich
- Diagnosestellung: Über Nachweis eines Vitamin B12-Mangels
- Tabes dorsalis
- Funikuläre Myelose
- Basalganglienerkrankungen: Restless-Legs-Syndrom
- Klinische Abgrenzung: Unangenehme nächtliche Parästhesien mit Bewegungsdrang , aber keine Hypästhesie und keine motorischen Defizite
- Diagnosestellung und Therapie: Über Wirksamkeit von Dopamin-Agonisten vor dem Schlafengehen
Eine funikuläre Myelose (Hinter- und Seitenstrangdegeneration bei Vitamin-B12-Mangel) kann wie eine sensible Neuropathie erscheinen, ist aber eine metabolische Myelopathie. Da ein Vitamin-B12-Mangel sowohl Rückenmark als auch periphere Nerven schädigen kann, ergeben sich allerdings keine unterschiedlichen therapeutischen Konsequenzen!
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Ursächliche Therapie
- Therapie bzw. Therapieoptimierung der Grunderkrankung, sofern möglich!
- Zur Therapie immunvermittelter Polyneuropathien siehe:
Symptomatische Therapie [2]
Neuropathische Schmerztherapie [27]
- Indikation: Bei schmerzhaften Polyneuropathien
- Ziel: Idealerweise Schmerzfreiheit, mind. Schmerzlinderung auf tolerables Niveau
- Wirkstoffe
- Behandlungsverlauf
- Beurteilung der (Un‑)Wirksamkeit eines Wirkstoffes erst nach 2–4 Wochen [28]
- Auslassversuche einer wirksamen medikamentösen Therapie frühestens nach mehreren Monaten anhaltender und ausreichender Befundstabilität und optimierter Therapie der Grunderkrankung
Die (Un‑)Wirksamkeit eines Wirkstoffes sollte erst nach 2–4 Wochen beurteilt werden! Völlige Schmerzfreiheit lässt sich in vielen Fällen nicht mehr erreichen, Ziel ist daher mindestens eine Schmerzlinderung auf ein tolerables Niveau.
Auslassversuche einer wirksamen medikamentösen Schmerztherapie sollten frühestens nach mehreren Monaten anhaltender und ausreichender Befundstabilität vorgenommen werden, wenn zudem die Therapie der Grunderkrankung optimiert wurde (z.B. unter optimaler Blutzuckereinstellung bei diabetischer Polyneuropathie)!
Funktionserhaltende Therapie [5]
- Indikation: Insb. bei motorischer Beteiligung
- Therapieformen
- Physiotherapie, körperliche Aktivität
- Ggf. Ergotherapie
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- G60.-: Hereditäre und idiopathische Neuropathie
- G60.0: Hereditäre sensomotorische Neuropathie
- Charcot-Marie-Tooth-Hoffmann-Syndrom
- Déjerine-Sottas-Krankheit
- Hereditäre sensomotorische Neuropathie, Typ I-IV
- Hypertrophische Neuropathie des Kleinkindalters
- Peronäale Muskelatrophie (axonaler Typ) (hypertrophische Form)
- Roussy-Lévy-Syndrom
- G60.1: Refsum-Krankheit
- G60.2: Neuropathie in Verbindung mit hereditärer Ataxie
- G60.3: Idiopathische progressive Neuropathie
- G60.8: Sonstige hereditäre und idiopathische Neuropathien
- G60.9: Hereditäre und idiopathische Neuropathie, nicht näher bezeichnet
- G60.0: Hereditäre sensomotorische Neuropathie
- G61.-: Polyneuritis
- G61.0: Guillain-Barré-Syndrom
- Akute (post‑)infektiöse Polyneuritis
- Miller-Fisher-Syndrom
- G61.1: Serumpolyneuropathis
- G61.8: Sonstige Polyneuritiden
- G61.9: Polyneuritis, nicht näher bezeichnet
- G61.0: Guillain-Barré-Syndrom
- G62.-: Sonstige Polyneuropathien
- G62.0: Arzneimittelinduzierte Polyneuropathie
- G62.1: Alkohol-Polyneuropathie
- G62.2: Polyneuropathie durch sonstige toxische Agenzien
- G62.8-: Sonstige näher bezeichnete Polyneuropathien
- Strahleninduzierte Polyneuropathie
- G62.80: Critical-illness-Polyneuropathie
- G62.88: Sonstige näher bezeichnete Polyneuropathien
- G62.9: Polyneuropathie, nicht näher bezeichnet
- Neuropathie o.n.A.
- G63.-*: Polyneuropathie bei anderenorts klassifizierten Krankheiten
- G63.0*: Polyneuropathie bei anderenorts klassifizierten infektiösen und parasitären Krankheiten
- Polyneuropathie (bei):
- Diphtherie (A36.8†)
- infektiöser Mononukleose (B27.-†)
- Lepra (A30.-†)
- Lyme-Krankheit (A69.2†)
- Mumps (B26.8†)
- nach Zoster (B02.2†)
- Spätsyphilis (A52.1†)
- Spätsyphilis, konnatal (A50.4†)
- tuberkulös (A17.8†)
- Polyneuropathie (bei):
- G63.1*: Polyneuropathie bei Neubildungen (C00-D48†)
- G63.2*: Diabetische Polyneuropathie (E10-E14, vierte Stelle .4†)
- G63.3*: Polyneuropathie bei sonstigen endokrinen und Stoffwechselkrankheiten (E00-E07†, E15-E16†, E20-E34†, E70-E89†)
- G63.4*: Polyneuropathie bei alimentären Mangelzuständen (E40-E64†)
- G63.5*: Polyneuropathie bei Systemkrankheiten des Bindegewebes (M30-M35†)
- G63.6*: Polyneuropathie bei sonstigen Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems (M00-M25†, M40-M96†)
- G63.8*: Polyneuropathie bei sonstigen anderenorts klassifizierten Krankheiten
- Urämische Neuropathie (N18.-†)
- G63.0*: Polyneuropathie bei anderenorts klassifizierten infektiösen und parasitären Krankheiten
- G64: Sonstige Krankheiten des peripheren Nervensystems
- Inklusive: Krankheit des peripheren Nervensystems o.n.A.
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.