Abstract
Ein nephrotisches Syndrom ist ein klinisch eindrückliches Krankheitsbild, das durch einen massiven Proteinverlust über die Nieren entsteht. Die Betroffenen entwickeln aufgrund des erniedrigten kolloid-osmotischen Drucks Ödeme am ganzen Körper, da die ins Interstitium filtrierte Flüssigkeit nicht mehr ausreichend rückresorbiert werden kann. Als Frühzeichen fällt häufig eine Wassereinlagerung an den Augenlidern auf und kann in ausgeprägter Form den ganzen Körper betreffen. Zusätzlich führt der Proteinverlust zu systemischen Funktionsstörungen: So besteht bspw. eine erhöhte Infektanfälligkeit (Immunglobulinmangel) und erhöhte Thromboseneigung (Antithrombin-III-Mangel).
Ursächlich können dem nephrotischen Syndrom verschiedene Erkrankungen mit Beeinträchtigung des Nierenparenchyms zugrundeliegen. Bei der meist gutartig verlaufenden Minimal-Change-Glomerulonephritis des Kindesalters reicht in der Regel eine symptomatische Therapie. Andere Formen besitzen eine schlechtere Prognose, erfordern bei immunologischer Genese meist eine immunsuppressive Therapie oder sind gar Ausdruck einer fortgeschrittenen Destruktion der Nieren (z.B. diabetische Nephropathie, Amyloidose).
Definition
Nephrotisches Syndrom |
---|
Proteinurie >3,5 g/1,73 m2/24 h |
Hypoproteinämie |
Hypalbuminämische Ödeme |
Hyperlipoproteinämie |
Ätiologie
- Glomerulonephritis (GN)
-
Minimal-Change-Glomerulonephritis (MCGN)
- Häufigste Ursache im Kindesalter, Auftreten auch bei Erwachsenen möglich
- Meist idiopathisch
- Selten erworben
-
Membranöse Glomerulonephritis (MGN)
- Häufigste Ursache im Erwachsenenalter
- Häufig idiopathisch
- Tlw. erworben
-
Fokal-segmentale Glomerulonephritis (FSGN)
- Insb. bei Schwarzen Menschen
- Idiopathisch, angeboren oder erworben
- Membranoproliferative Glomerulonephritis (MPGN), IgA-Nephropathie (seltener)
-
Minimal-Change-Glomerulonephritis (MCGN)
- Diabetische Nephropathie, Amyloidose, Leichtkettenerkrankung
Pathophysiologie
Alle ursächlichen Erkrankungen zeigen eine Störung der glomerulären Filtrationsbarriere . Die zugrundeliegenden pathophysiologischen Vorgänge sind dabei unterschiedlich, recht komplex und z.T. noch nicht gänzlich verstanden. Vereinfachend kommt es bei den drei wichtigsten Glomerulonephritiden zu folgenden Defekten:
- Minimal-Change-Glomerulonephritis: Strukturdefekt der Podozyten mit Verlust der Fußfortsätze
- Frühere (nunmehr als nicht mehr zutreffend angesehene) Theorien gingen von einem Ladungsverlust des Filters als Ursache der erhöhten Permeabilität aus.
- Membranöse Glomerulonephritis: Antikörper-Ablagerungen zwischen Podozyten und der Basalmembran (subepitheliale Ablagerungen, „Humps“), Verdickungen der Basalmembran („Spikes“)
- Fokal-segmentale Glomerulonephritis: Podozytendefekt und Untergang
Liegt eine gestörte glomeruläre Filtrationsbarriere vor, kann es zu einem massiven Eiweißverlust über die Niere kommen (siehe auch glomeruläre Erkrankungen):
- Grundsätzlich wird durch eine gesteigerte Proteinsynthese der Leber der Verlust kompensiert → Übersteigt der Verlust die Synthesekapazität der Leber (normalerweise bei Proteinverlust von 3–3,5 g/Tag), resultiert eine Hypoproteinämie
- Vermindertes Serumalbumin → Ab Werten <2,5 g/dL kommt es durch den verringerten kolloidosmotischen Druck zu Eiweißmangelödemen
- Genauerer Ablauf: Es kommt zu Wasserverlust ins Gewebe, die resultierende Hypovolämie aktiviert das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System sowie die ADH-Sekretion. Die daraus folgende vermehrte renale Wasserrückresorption „unterhält“ die Ödembildung.
- Erhöhte Lipoproteinämie → Als Kompensationsmechanismus, um dem Abfall des Albumin zu begegnen, werden vermehrt Lipoproteine gebildet → Cholesterin- und Triglyzeridwerte↑
- Verlust von Antithrombin-III → Hyperkoagulabilität
- Verlust von Immunglobulinen → Infektanfälligkeit
- Verlust von „Transportproteinen“ → Vitamin-D-Mangel, evtl. Thyroxinmangel, veränderte Pharmakodynamik von Medikamenten
- Vermindertes Serumalbumin → Ab Werten <2,5 g/dL kommt es durch den verringerten kolloidosmotischen Druck zu Eiweißmangelödemen
Symptome/Klinik
- Symptome der Grunderkrankung
- Allgemein bei nephrotischem Syndrom
-
Ausgeprägte Ödeme
- Typischerweise beginnend mit Lidödemen, im Verlauf Anasarka
- Gewichtszunahme
- Evtl. schäumender Urin
- Ggf. Hypertonie, ggf. Niereninsuffizienz im Verlauf
- Thrombose- und Embolieneigung (z.B. Lungenembolie, Nierenvenenthrombose)
- Infektanfälligkeit
- Hypokalzämie
-
Ausgeprägte Ödeme
Diagnostik
- Blut
- Gesamteiweiß, Albumin, Immunglobuline, Antithrombin-III↓
- Cholesterin, Triglyzeride, ggf. Retentionsparameter↑
- Eiweißelektrophorese: Albumin- und γ-Bande↓, α2- und β-Bande↑
- Ggf. Anämie
- Urin → Starke Proteinurie (>3,5 g/1,73 m2/24 h)
- Proteinquantität: 24-Stunden-Sammelurin oder Spot-Urin
- Proteinqualität (Elektrophorese): Meist selektiv-glomeruläre Proteinurie
- Veraltet: Sediment
- Fettkörperchenzylinder (Fettkügelchen und Proteine in hyalinen Zylindern; imponieren mikroskopisch wie ein Malteser Kreuz)
- Sonographie: Ggf. vergrößerte Nieren, erhöhte Echogenität
- Nierenbiopsie (siehe Pathologie)
Pathologie
Nierenbiopsie
- Indikation: Sicherung der Diagnose, unklares Krankheitsbild
- Befund
-
Minimal-Change-GN
- Lichtmikroskopisch unauffällig (→ „minimal change“)
- Elektronenmikroskopische Auslöschung der Fußfortsätze der Podozyten
-
Membranöse GN
- Ablagerungen von Immunglobulinkomplexen und Komplement subepithelial (=zwischen Basalmembran und Podozyten), auch „Humps“ genannt
- Verdickungen der Basalmembran, auch „Spikes“ genannt
- Fokal-segmentale GN: Segmentaler Verlust von Podozyten
-
Minimal-Change-GN
Therapie
Allgemein
- Kochsalzarme Diät (aber Malnutrition vermeiden)
- Keine Eiweißrestriktion! [1]
- Ggf. antihypertensive Therapie mit ACE-Hemmern oder Sartanen
- Ggf. Diuretika
- Statine bei Hypercholesterinämie
- Substitution eines möglicherweise vorliegenden Vitamin-D-Mangels
- Thromboseprophylaxe
Bei Vorliegen eines Antithrombin-III-Mangels kann der Einsatz von Heparin wirkungslos sein. Daher in diesen Fällen orale Antikoagulation erwägen!
Speziell
- Je nach zugrundeliegendem Krankheitsbild hilft der Einsatz von Glucocorticoiden
- Bei bedrohlicheren Erkrankungen, Ausbleiben von Besserung und schweren Verläufen erfolgt eine Ausweitung der immunsuppressiven Therapie (Cyclophosphamid, Ciclosporin)
Komplikationen
Nierenvenenthrombose
- Ursache: Gesteigerte Gerinnungsneigung (u.a. bei Malignomerkrankungen, Antiphospholipid-Syndrom)
- Bei nephrotischem Syndrom: Antithrombin-III-Mangel, Tendenz zur extravasalen Flüssigkeitsverschiebung („Eindickung“ des Blutes)
- Klinik: Flankenschmerzen, Hämaturie, LDH↑ (hämorrhagischer Niereninfarkt), Anurie/Nierenversagen bei beidseitiger Thrombose
- Komplikationen: Nierenkapselruptur, Lungenembolie
- Therapie: Antikoagulation, ggf. Antithrombin-III-Substitution
Es werden die wichtigsten Komplikationen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Prognose
- Bei Minimal-Change-GN: Meist gut
- Bei idiopathischer membranöser GN: In ca. 20–30% der Fälle Spontanremission, bei ca. 30–40% bleibende Proteinurie mit stabiler Nierenfunktion, bei 20–30% Verschlechterung der Nierenfunktion
- Viele Formen führen bei unterschiedlichem Ansprechen auf eine Therapie zu fortschreitender Niereninsuffizienz mit Notwendigkeit der Dialyse
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Kodierung nach ICD-10-GM Version 2021
- N04.-: Nephrotisches Syndrom
- Inklusive:
- Angeborenes nephrotisches Syndrom
- Lipoidnephrose
- Inklusive:
Morphologische Veränderungen bei glomerulären Krankheiten
- 0: Minimale glomeruläre Läsion
- Minimal changes glomerulonephritis
- 1: Fokale und segmentale glomeruläre Läsionen
- Fokal und segmental:
- Hyalinose
- Sklerose
- Fokale Glomerulonephritis
- Fokal und segmental:
- 2: Diffuse membranöse Glomerulonephritis
- 3: Diffuse mesangioproliferative Glomerulonephritis
- 4: Diffuse endokapillär-proliferative Glomerulonephritis
- 5: Diffuse mesangiokapilläre Glomerulonephritis
- Membranoproliferative Glomerulonephritis, Typ I und III, oder o.n.A.
- 6: Dense-deposit-Krankheit
- Membranoproliferative Glomerulonephritis, Typ II
- 7: Glomerulonephritis mit diffuser Halbmondbildung
- Extrakapilläre Glomerulonephritis
- 8: Sonstige morphologische Veränderungen
- Proliferative Glomerulonephritis o.n.A.
- 9: Art der morphologischen Veränderung nicht näher bezeichnet
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2021, DIMDI.