Abstract
Bei Windpocken handelt es sich um die meist im Kindesalter auftretende Primärinfektion mit dem Varizella-Zoster-Virus. Windpocken sind hochansteckend und werden aerogen oder auch seltener durch Schmierinfektion übertragen. Neben Fieber kommt es zu einem sehr charakteristischen, stark juckenden Exanthem, das am gesamten Körper auftritt, einschließlich der behaarten Kopfhaut: Es zeigen sich Papeln, die sich zu flüssigkeitsgefüllten ungekammerten Bläschen und schließlich zu verkrusteten Erosionen wandeln. Da die verschiedenen Stadien des Exanthems gleichzeitig auftreten, spricht man vom Bild des sog. „Sternenhimmels“. Bei Immunkompetenten kommt es nach ca. 5–7 Tagen zur Abheilung. Die Therapie erfolgt symptomatisch mit synthetischen Gerbstoffen und juckreizstillenden Medikamenten. Eine antivirale Therapie (z.B. mit Aciclovir) ist möglich, aber nur bei Risikogruppen mit zu erwartendem schweren Verlauf indiziert.
Zu schwerwiegenden Varizelleninfektionen kommt es insbesondere bei Neugeborenen mit konnataler Varizelleninfektion, älteren und immungeschwächten Menschen. Eine Infektion in der Schwangerschaft kann diaplazentar auf den Fötus übertragen werden und zu Fehlbildungen mit Todesfolge führen. Eine Impfung gegen Varizellen ist möglich und wird gleichzeitig mit der Masern-Mumps-Röteln-Impfung im Alter von 11–14 Monaten und 15–23 Monaten empfohlen. Windpocken treten i.d.R. nur einmal im Leben auf, da die Infektion eine Immunität zur Folge hat. Da das Virus (nach Infektion oder Impfung) jedoch lebenslang in den Ganglien persistiert, kann es bei Immunschwäche zur Reaktivierung in Form eines Herpes zoster kommen.
Epidemiologie
- Vorkommen: Weltweit
- Häufigkeit
- Vor STIKO-Impfempfehlung 2004: ca. 750.000 Infektionen pro Jahr in Deutschland
- Aktuell in Deutschland
- Hauptsächlich Erkrankung bei ungeimpften Kindern (ca. 90%) [1], Durchbruchvarizellen möglich
- Ca. 350 stationäre Behandlungen von Kindern bis 15 J. pro Jahr infolge Varizellen
- Alter: In jedem Alter möglich, Altersgipfel 1–4 J.
- Saisonalität: Winter/Frühling
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Erreger: Varizella-Zoster-Virus (VZV) = Humanes Herpesvirus-3 (HHV-3)
- Reservoir: Mensch (einzig bekanntes Reservoir)
- Primärinfektion: Windpocken mit lebenslangem Persistieren des Virus in den Spinal- und Hirnganglien
- Bei Reaktivierung: Herpes zoster infolge einer (oft passageren) Immunschwäche
- Durchbruchvarizellen: Eine Infektion mit dem Varizellen-Wildtyp ist trotz Impfung möglich, meist in milder Ausprägung und (fast) ohne Begleitsymptome
- Impfvarizellen: Nach der Impfung entwickeln einige Personen ein leichtes Varizellenexanthem mit virushaltigen infektiösen Bläschen
- Übertragung
- Tröpfcheninfektion: Ansteckung über mehrere Meter durch virushaltige Tröpfchen aus den Atemwegen („WINDpocken“)
- Schmierinfektion: Direkt von Mensch zu Mensch oder indirekt über Gegenstände
- Kontakt zu erregerhaltigem Bläscheninhalt (bei Windpocken und Zoster)
- Kontakt zu infektiösem Speichel oder Konjunktivalsekret (bei Windpocken)
- Diaplazentär: Fetales Varizellensyndrom bei 1–2% der Primärerkrankungen während der Schwangerschaft, insb. 5.–24. SSW
- Infektiosität: 2 Tage vor bis 5 Tage nach Exanthembeginn („bis das letzte Bläschen verkrustet ist“)
- Hohe Kontagiosität!
Bereits ein kurzer Kontakt über eine Entfernung von wenigen Metern kann zur Infektion führen!
Symptome/Klinik
- Inkubationszeit: Meist 2 Wochen (8–28 Tage)
- Klinik
- Uncharakteristische Prodromi (1–2 Tage vor Exanthembeginn, insgesamt über 3–5 Tage anhaltend)
- Abgeschlagenheit, leichtes Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen
- Pathognomonisches Exanthem bei Windpocken
- Primäreffloreszenz: Papeln und Vesikel auf gerötetem Grund („Tautropfen auf einem Rosenblatt“)
- Im Verlauf Eintrüben des Blaseninhaltes und krustenschorfbedeckte Erosionen
- Schubweiser Verlauf
- „Sternenhimmel“ oder „Heubner-Sternenkarte“: Nebeneinander verschiedener Exanthemphasen (Papeln, Vesikel und Krusten)
- Beginn Haargrenze, kraniokaudale Ausbreitung
- Typischerweise Beteiligung von Gesicht, behaartem Kopf und Mundschleimhaut (Enanthem)
- Starker Juckreiz
- Menschen mit Immunschwäche zeigen häufig schwere, komplizierte, z.T. lebensgefährliche Verläufe
- Uncharakteristische Prodromi (1–2 Tage vor Exanthembeginn, insgesamt über 3–5 Tage anhaltend)
Diagnostik
- Typische Anamnese und Klinik i.d.R. ausreichend [1][2][3]
- Ggf. Diagnosesicherung
- Erregernachweis mittels PCR
- Bei Immungeschwächten und Schwangeren: Bläschensekret
- Bei V.a. intrauterine Infektion: Chorionzotten, Fruchtwasser oder fetales Blut
- Bei V.a. Zoster-Enzephalitis: Liquor
- Bei V.a. Pneumonie: Bronchialsekret (bronchoalveoläre Lavage)
- Antigennachweis aus Bläschensekret/Abstrich (Objektträgerpräparat luftgetrocknet, unfixiert)
- Serologie
- VZV-spezifische Antikörper: Serum, Liquor
- Avidität von Anti-VZV-IgG: Unterscheidung Primärinfektion (Varizellen) vs. Herpes zoster
- Erregernachweis mittels PCR
Differentialdiagnosen
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differentialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Symptomatische Therapie
Die Hauptursache für die Entstehung einer Superinfektion ist das Aufkratzen der juckenden Effloreszenzen. Die systemische Gabe von Antihistaminika sowie das Anwenden synthetischer Gerbstoffe können den Juckreiz und damit auch das Superinfektionsrisiko durch Kontamination beim Kratzen deutlich reduzieren.
- Hautpflege
- Synthetische Gerbstoffe
- Nicht mehr empfohlen wird eine Zinkschüttelmixtur, die zwar den Juckreiz lindert und Läsionen abtrocknen lässt, aber eine bakterielle Superinfektion fördert
- Bei starkem Juckreiz: Antihistaminika oral, bspw. Dimetinden
- Kinder ab 1 J.
- Erwachsene
- Für genaue Dosierungshinweise siehe: Dimetinden bzw. Dimetinden (pädiatrisch)
Bei Superinfektion
-
Antibiotika p.o., bspw. Cefuroxim p.o.
- Erwachsene
- Kinder 1 Mon.–12 J.
- Siehe auch: Cefuroxim (pädiatrisch)
Ggf. Antivirale Therapie bei Windpocken
Eine antivirale Therapie mit Aciclovir ist Patienten mit Risikofaktoren, Immunschwäche oder Komplikationen vorbehalten.
- Indikationen
- Neugeborene und Frühgeborene bis zur vollendeten 6. Lebenswoche
- Personen >16 J.
- Immunschwäche
- Chronische Hautkrankheiten, z.B. atopische Dermatitis
- Dauertherapie mit Steroiden oder Salicylaten
- Komplizierter Verlauf
- Aciclovir i.v.
- Kinder und Erwachsene [1]
- Aciclovir p.o. (bei leichteren Fällen bzw. zum Oralisieren nach Symptombesserung)
- Alternativ: Famciclovir oder Brivudin p.o.
Salicylate sind bei einer Varizelleninfektion immer kontraindiziert, da in diesem Zusammenhang das Risiko eines Reye-Syndroms erhöht ist!
Komplikationen
- Komplikationsrate bei Immunkompetenten [1]
- Altersgipfel im 1. Lebensjahr
- Ansonsten: Häufigkeit ab dem Alter von 4 Jahren steigend
- Haut: Bakterielle Superinfektion (u.a. Impetigo, Phlegmone, nekrotisierende Fasziitis), oft mit Narbenbildung
- ZNS (bei ca. 0,1% der Windpockenerkrankungen)
- Zerebellitis mit Ataxie (ca. 1:4.000 Windpockenerkrankungen): Meist selbstlimitierend nach einigen Wochen, Prognose gut
- Enzephalitis (sehr selten, ca. 1:25.000 Windpockenerkrankungen): Krämpfe, Koma, schlechte Prognose
- Meningitis, Guillain-Barré-Syndrom
- Bis zu mehrere Monate nach der Erkrankung: Zerebrale Vaskulitis nach Varizellen-Infektion (Anamnese!)[1]
- Lunge: Pneumonie (insb. Varizellen-Pneumonie, auch sekundär bakteriell möglich)
- Bei Erwachsenen häufiger, bei Kindern selten
- Auftreten meist 3–5 Tage nach Symptombeginn
- Weitere mögliche Organmanifestationen
- Hepatitis, Myokarditis, Arthritis, Nephritis, Glomerulonephritis, Thrombozytopenie mit Hämorrhagie
- Bei gleichzeitiger Aspirin-Einnahme bei Kindern: Vorkommen von Reye-Syndrom
- Bei Schwangeren und Neugeborenen [1]
- Fetales Varizellensyndrom (ca. 2% der Fälle bei Infektion im 1. oder 2. Trimenon) mit Hautläsionen und multiplen Fehlbildungen, ca. 30% letal
- Konnatales Varizellensyndrom (ca. 30% bei Infektion 5 Tage vor bis 2 Tage nach Geburt) mit bis zu 30% letalem Verlauf
Es werden die wichtigsten Komplikationen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Prognose
- Bei immunkompetenten Patienten
- I.d.R. komplikationsloser Verlauf und narbenloses Abheilen
- Durch starkes Kratzen oder bakterielle Superinfektionen Narbenbildung möglich
- Bei Immunsupprimierten und Neugeborenen: Generalisierte Verläufe mit letalem Ausgang möglich
- Komplizierte Verläufe mit schlechter Prognose immer möglich
- Letalität
- 0,6:100.000 Kinder
- 31:100.000 Erwachsene
Prävention
Varizellen-Impfung [3][4]
Die STIKO empfiehlt allen Kindern im Alter von 11 Monaten–17 Jahren und allen seronegativen Frauen mit Kinderwunsch eine vollständige Grundimmunisierung gegen Varizellen als Standardimpfung.
- Impfstoff: Lebendimpfstoff
- Monovalent oder Kombinationsimpfstoff mit Masern, Mumps und Röteln (MMRV-Impfstoff)
- Siehe auch: Varizellen-Impfstoff
- Grundimmunisierung: 2 Impfdosen im Alter von 11 und 15 Monaten
- Für die 1. Impfung wird die Gabe des MMR-Impfstoffs mit gleichzeitiger Varizellen-Impfung (an verschiedenen Körperstellen) empfohlen
- Für die 2. Impfung kann der MMRV-Impfstoff verwendet werden
- Bei angestrebter schneller Immunisierung: Zweitimpfung nach 4 Wochen möglich (zeitlicher Mindestabstand)
- Nachholimpfung
- Kinder im Alter von ≤17 Jahren: 2 Impfdosen mit Varizellen- oder MMRV-Impfstoff im Abstand von 4–6 Wochen
- Erwachsene ≥18 Jahre
- Keine grundsätzliche Empfehlung zur Nachholimpfung
- Seronegative Frauen mit Kinderwunsch: 2 Impfdosen mit Varizellen- oder MMRV-Impfstoff im Mindestabstand von 4 Wochen
- Indikationsimpfungen : 2 Impfdosen mit Varizellen- oder MMRV-Impfstoff im Mindestabstand von 4 Wochen
- Seronegative Patienten vor immunsuppressiver Therapie oder Organtransplantation
- Seronegative mit Kontakt zu gefährdeten Personen, bspw. Schwangeren oder Menschen mit Immunschwäche
- Patienten mit schwerer Neurodermitis und fehlender Immunität
- Berufsbedingte Impfung: Zwei Impfdosen mit Varizellen- oder MMRV-Impfstoff im Mindestabstand von 4 Wochen
- Seronegatives Personal im Gesundheitsdienst und in Gemeinschaftseinrichtungen für Kleinkinder
Die für alle Kinder empfohlene Varizellen-Impfung erfolgt mit einem Lebendimpfstoff! Für die Herpes-zoster-Impfung stehen ein Lebend- und ein Totimpfstoff zur Verfügung, die STIKO empfiehlt als Standardimpfung ab dem Alter von 60 Jahren allerdings den Totimpfstoff!
Postexpositionsprophylaxe bei Windpocken [1][3][4]
- Indikation: Exposition von Risikopersonen oder von deren Kontaktpersonen ohne Immunität
- Inkubationsimpfung (aktive Immunisierung)
- Mittels Lebendimpfstoff
- Möglichst früh durchzuführen, innerhalb von 5 Tagen nach Exposition oder 3 Tagen nach Exanthembeginn beim Indexfall
- Passive Immunisierung [1][2]
- Mittels Varizella-Zoster-Immunglobulin (VZIG)
- Varizella-Zoster-Immunglobulin i.v.
- Varizellen-Zoster-Immunglobulin i.m.
- Möglichst früh durchzuführen, innerhalb von 3–10 Tagen nach Exposition
- Empfohlen für Personen mit erhöhtem Risiko für Komplikationen
- Ungeimpfte Schwangere mit fehlender Varizellenerkrankung in der Anamnese
- Immunsupprimierte mit fehlender Immunität
- Neugeborene, wenn die Mutter 5 Tage vor oder bis 2 Tage nach der Entbindung erkrankt
- Frühgeborene ≥28. SSW nach Exposition in der Neonatalzeit, wenn die Mutter keine Immunität aufweist
- Frühgeborene <28. SSW nach Exposition in der Neonatalzeit immer (unabhängig vom Serostatus der Mutter)
- Mittels Varizella-Zoster-Immunglobulin (VZIG)
- Chemoprophylaxe [1]
- Mittels Aciclovir p.o.
- Ab Tag 7–9 nach Exposition zu erwägen
- Bislang nur bei immunkompetenten Personen empfohlen, aktuell in Erprobung bei Menschen mit Immunschwäche
Weitere Maßnahmen bei Kontaktpersonen [5]
- Ausschluss aus Gemeinschaftseinrichtungen, solange das Risiko einer Weiterverbreitung besteht
- Nicht (mehr) erforderlich bei Kontaktpersonen
- Mit vorhandenem Impfschutz
- Nach durchgemachter Krankheit [6]
- Nicht (mehr) erforderlich bei Kontaktpersonen
Weitere Maßnahmen im Krankheitsfall
- Kein Kontakt zu Neugeborenen, Schwangeren, Menschen mit fehlender Immunität oder mit Immunschwäche
- Ausschluss aus Gemeinschaftseinrichtungen für mind. 7 Tage bzw. bis alle Effloreszenzen verkrustet sind, Wiederzulassung ohne ärztliches Attest möglich
- Im Krankenhaus: Isolierung und Mundschutz-Handschuh-Kittel-Pflege während infektiöser Zeit
Meldepflicht
- Arztmeldepflicht
- Nach § 6 IfSG: Namentliche Meldepflicht bei Verdachts-, Krankheits- oder Todesfällen
- Nach IfSGMeldpflV ST 2005 und IfSGMeldeVO (nur in Sachsen-Anhalt und Sachsen ): Namentliche Meldepflicht auch bei konnataler Infektion oder fetalem Varizellensyndrom
- Labormeldepflicht
- Nach § 7 IfSG: Namentliche Meldepflicht bei Erregernachweis
- Nach IfSGMeldpflV ST 2005 (nur in Sachsen-Anhalt ): Namentliche Meldepflicht bei Erregernachweis, auch im Zusammenhang mit konnatalen Infektionen
- Nach ThürIfKrMVO (nur in Thüringen ): Namentliche Meldepflicht bei Erregernachweis, auch ohne Hinweis auf eine akute Infektion
- Meldepflicht für Leiter von Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 und § 34 (6) IfSG
- Namentliche Meldepflicht bei Verdachts- und Krankheitsfällen
Patienteninformationen
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2021
- B01.-: Varizellen [Windpocken]
- B01.0+: Varizellen-Meningitis (G02.0*)
- B01.1+: Varizellen-Enzephalitis (G05.1*)
- Enzephalitis nach Varizelleninfektion, Varizellen-Enzephalomyelitis
- B01.2+: Varizellen-Pneumonie (J17.1*)
- B01.8: Varizellen mit sonstigen Komplikationen
- B01.9: Varizellen ohne Komplikation
- Varizellen o.n.A.
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2021, DIMDI.
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