- Klinik
Seltene hereditäre Stoffwechselerkrankungen
Abstract
In diesem Kapitel werden die seltenen, hereditären Stoffwechselerkrankungen abgehandelt. Sie umfassen verschiedene Störungen des Intermediärstoffwechsels, die durch vererbte Enzymdefekte verursacht werden, welche die Verstoffwechselung selbst sowie den Transport der Substrate oder Produkte betreffen können. Eine kurative Therapie ist nicht möglich, für einige wenige dieser Erkrankungen gibt es aber heutzutage symptomatische Therapien, sodass die Lebenserwartung in diesen Fällen etwas günstiger ausfällt.
α1-Antitrypsin-Mangel (AAT-Mangel)
- Vererbungsmodus: Autosomal-rezessiv vererbt
- Homozygote (schwere) Form (<0,2% der Bevölkerung)
- Heterozygote (leichte) Form (5–10% der Bevölkerung)
- Pathophysiologie
- α1-Antitrypsin ist ein hepatisch synthetisierter Protease-Inhibitor
- Bei Erkrankung an α1-Antitrypsin-Mangel liegt in den meisten Fällen eine Genmutation vor, die zu einer Konformationsänderung und gestörten Sekretion von α1-Antitrypsin aus den Hepatozyten führt (es gibt auch eine Form des α1-Antitrypsin-Mangels, bei der überhaupt kein α1-Antitrypsin synthetisiert wird)
- Folgen für die Leber: Gestörte Sekretion aus den Hepatozyten → Intrazelluläre Akkumulation → Hepatitis und Leberzirrhose
- PAS-positive, kugelige Einschlüsse in periportalen Hepatozyten
- Folgen für die Lunge: Mangel an α1-Antitrypsin im Plasma → Gesteigerte Proteaseaktivität in der Lunge und Zerstörung der Lungenarchitektur → Lungenemphysem
- Symptome
- Schwere Form zeigt früh hepatische Manifestation → Prolongierter Ikterus neonatorum, Hepatitis und Leberzirrhose (bereits im Kindesalter möglich), Lungenemphysem meist erst im Verlauf
- Leichte Form zeigt vor allem pulmonale Manifestation im jungen Erwachsenenalter, auch hepatische Beteiligung möglich
- Diagnostik: Elektrophorese (erniedrigte Alpha1-Zacke), Antitrypsin-Spiegel, Leberbiopsie
- Therapie: Antitrypsin-Substitution, symptomatisch, ggf. Lebertransplantation (beseitigt AAT-Mangel!)
COPD-Patienten unter 50 Jahren sollten auf einen α1-Antitrypsinmangel untersucht werden!
Mitochondriale Myopathien
Allgemein
- Pathophysiologie
- Enzymminderung, die zu einer gestörten Energiegewinnung in der Atmungskette in den Mitochondrien führt
- Macht sich v.a. in Organen mit hohem Energieverbrauch (Gehirn, Skelettmuskulatur) bemerkbar
- Vererbung: Maternale Vererbung
- Klinisches Bild: Myopathien bei Belastung und muskuläre Schwäche
- Diagnostik
- Labor: Erhöhung des Serumlaktats
- Immunhistochemie: „ragged red fibers“ = vermehrte Mitochondrien in den Muskelfasern, die sich rot anfärben
Spezielle Formen
- Chronisch progrediente externe Ophthalmoplegie (CPEO)
- Ätiologie: Mitochondriopathie
- Klinik: Progrediente Ophthalmoplegie
- Diagnostik
- Laktat↑ in Serum und Liquor
- Muskelbiopsie zeigt charakteristische "red ragged fibers"
- Kearns-Sayre-Syndrom
- Klinik: Ophthalmoplegie, Retinopathia pigmentosa und gestörtes Herzreizleitungssystem
- MELAS
- Klinik: Muskelschwäche, tonisch-klonische Anfälle, Demenz und rezidivierende Schlaganfälle
- Labor: Laktatazidose
- MERRF
- Ätiologie: Punktmutation an Stelle 8344 der mtDNA (in 80% der Fälle); dadurch Zerstörung wesentlicher Proteine der oxidativen Phosphorylierung
- Klinik: Manifestation in der Jugend, langsam progredient; Myoklonien, generalisierte Krampfanfälle, zerebelläre Ataxie, Demenz
- Diagnostik: Nachweis von ragged red fibers
Stoffwechselstörungen von Aminosäuren
Alkaptonurie
- Ätiologie: Seltene, autosomal-rezessiv vererbte Tyrosinstoffwechselerkrankung
- Pathophysiologie/Klinik: Anreicherung des Metabolits Homogentisinsäure → Ablagerungen und ggf. Schädigung von:
-
Knorpel, Sehnen, Haut, Sklera = Ochronose
- Klinisch bedeutsame Folgen sind insbesondere die Arthrose sowie degenerative Wirbelsäulenveränderungen
- Herzklappen (Verkalkungen)
- Niere (Nephrolithiasis)
-
Knorpel, Sehnen, Haut, Sklera = Ochronose
- Diagnostik: Zugabe einer Base zum Urin → Schwarzfärbung spricht für das Vorliegen der Erkrankung
Homocystinurie
- Einordnung: Gruppe von Erkrankungen, bei denen es zu erhöhten Werten der Aminosäure Homocystein in Blut und Urin kommt
- Folgen (der Schweregrad der Erkrankung variiert)
- Augen: Linsenluxation, Myopie
- Knochen: Überlange Röhrenknochen, Arachnodaktylie
- ZNS: Retardierung, Epilepsie
- Gefäßsystem: Thromboembolie, Arteriosklerose
- Diagnostik: Zugabe von Natriumnitroprussid zum Urin → Intensive Rotfärbung spricht für das Vorliegen der Erkrankung
Phenylketonurie (PKU)
- Erbgang: Autosomal-rezessiv
- Pathophysiologie: Defekt der Phenylalaninhydroxylase (PAH) in der Leber → Umwandlung von Phenylalanin in Tyrosin gestört → Kumulation von Phenylalanin (im ZNS, nicht in der Leber!) → Beeinträchtigung des Hirnwachstums sowie Ausscheidung (auch von Metaboliten) im Urin↑ ("Phenylketonurie")
- Klinik
- Ab dem 4.–6. Monat fällt beim Kind ein psychomotorischer Entwicklungsrückstand auf
- 50% zerebrale Krampfanfälle
- Oft helle Haare
- Diagnostik/Prophylaxe
- Heute: Direkte Bestimmung von Phenylalanin im Rahmen des Neugeborenenscreenings aus Fersenblut am 2. Lebenstag
- Bei Nachweis einer Hyperphenylalaninämie: Oraler Tetrahydrobiopterin-Belastungstest
- Indirekte Phenylalaninmessung am 5. Lebenstag (Guthrie-Test)
- Heute: Direkte Bestimmung von Phenylalanin im Rahmen des Neugeborenenscreenings aus Fersenblut am 2. Lebenstag
- Therapie: Phenylalanin-arme Diät
Zystinose
- Definition: Zystin-Speicherkrankheit
- Verlauf: Unterschiedliches Erkrankungsalter und verschiedene Schweregrade: Infantile, juvenile und okuläre Form
- Epidemiologie: Am häufigsten ist die infantile Form (Beginn im 3. Lebensmonat), die zugleich am schwersten verläuft
- Klinik
- Gedeihstörung
- Debré-de-Toni-Fanconi-Syndrom
- Progrediente Niereninsuffizienz
- Weiterer Organbefall
- Charakteristisch: Nachweis von Zystinkristallen in der Kornea bei der Spaltlampenuntersuchung
Zystinurie
Informationen zur Zystinurie finden sich in dem Kapitel Urolithiasis
Störungen des Harnstoffzyklus
- Kurzbeschreibung: Störungen des Harnstoffzyklus führen zu einer insuffizienten Elimination von anfallendem Stickstoff bzw. Ammoniak
- Ätiologie: Autosomal-rezessive Vererbung (in seltenen Fällen X-chromosomal-rezessive Vererbung)
- Pathophysiologie
- Klinik : Je nach Ausprägung des Enzymdefekts treten die Symptome zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf
- Allgemein: Lethargie, Erbrechen, neurologische Symptome
- Neugeborene: Tachypnoe, Trinkschwäche, epileptische Anfälle und Koma
- Kleinkinder: Anorexie, Gedeihstörung, psychomotorische Retardierung
- Pubertät: Vor allem neurologische Symptome (Kopfschmerzen, Enzephalopathie, Ataxie)
- Diagnostik
- Ammoniakbestimmung: Hyperammonämie (>150 μmol/L)
- BGA: Respiratorische Alkalose
- Bestimmung von Aminosäuren im Plasma zur weiteren Charakterisierung des Defekts
- Therapie
- Initial: Anabolisierung des Stoffwechsels (Glucose und gleichzeitige Insulinzufuhr) und Elimination von Ammoniak über Hämodialyse
- Langfristig: Medikamentöse Ammoniakeliminierung, Substitution essentieller Aminosäuren, eiweißarme Diät
Stoffwechselstörung der Harnsäure
Lesch-Nyhan-Syndrom
- Ätiologie
- X-chromosomal-rezessive Vererbung
- Defekt der Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyl-Transferase
- Klinik
- Bis 6. Lebensmonat klinisch unauffällig
- Choreoathetotische Bewegungsstörungen mit Autoaggression
- Geistige Entwicklungsminderung
- Diagnostik
- Nachweis des Enzymdefekts
- Hyperurikämie (Störung des Purinstoffwechsels)
- Therapie
- Allopurinol (kausale Behandlung nicht möglich)
- Purin-arme Diät
- Prognose: Unbehandelt in den ersten Lebensjahren tödlich (durch Hyperurikämie induzierte Organschäden → Nierenversagen)
Fettsäureoxidationsdefekte
Medium-Chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel (MCAD-Mangel)
- Pathophysiologie
- Defekt im Abbau von mittelkettigen Fettsäuren → Störung der Fettsäureoxidation
- Fett kann nicht als alternative Energiequelle bei Kohlenhydratmangel fungieren
- Symptome: Rezidivierende Hypoglykämien, Erbrechen, Lethargie
- Komplikationen
- Enzephalopathie
- Leberverfettung und Funktionsverlust der Leber
- Plötzlicher Tod
- Diagnostik
- Erfassung im Neugeborenen-Screening
- Labor: Hypoglykämie, Hypoketonurie/Hypoketonämie, Hyperurikämie, metabolische Azidose, Erhöhung von AST/ALT, Ammoniak↑, verlängerte PT/PTT
- Therapie
- I.v.-Gabe von 10%iger Glucoselösung
- Vermeidung von Fastenzuständen
Mukopolysaccharidosen (MPS)
- Definition: Störungen im Abbau der Glykosaminoglykane
- Ätiologie: >10 bekannte Gendefekte; Vererbung: autosomal-rezessiv (Ausnahme ist die MPS Typ II, die X-chromosomal vererbt wird)
- Klinik
- Gesichtsdysmorphien (grobe Gesichtszüge), Gelenkkontrakturen, Wachstumsstörungen, Hepatosplenomegalie, Hornhauttrübungen, Hernien
- Typ I H (Hurler): Psychomotorische Retardierung, Dysostosis multiplex, Hornhauttrübung
- Diagnostik
- Klinik
- Röntgenaufnahme des Skeletts
- Urin: Suche nach sauren Mukopolysacchariden
- Therapie
- Enzymersatztherapie: L-Iduronidase
- Symptomatisch (orthopädische Versorgung, Hornhauttransplantation)