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Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen

Letzte Aktualisierung: 5.1.2023

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Bei Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) handelt es sich um eine Gruppe seltener chronisch-entzündlicher Erkrankungen des zentralen Nervensystems. Im Gegensatz zur Neuromyelitis optica (NMO, Dévic-Syndrom), die als Entität schon lange beschrieben war und die namensgebenden akuten Optikusneuritiden und transversen Myelitiden als charakteristische Merkmale aufweist, umfasst der Formenkreis der NMOSD auch andere klinische Manifestationen wie etwa Hirnstammsymptome. Entsprechend ist die NMO in den NMOSD aufgegangen und wird nicht mehr als eigenständige Entität gesehen. Der Verlauf der NMOSD ist i.d.R. schubförmig. Antikörper gegen das Wasser-Kanalprotein Aquaporin-4 (Anti-AQP4-AK) können in 70% der Fälle im Serum nachgewiesen werden. In der MRT zeigen sich häufig langstreckige entzündliche Veränderungen des N. opticus und des Rückenmarks sowie Veränderungen in betroffenen Hirnarealen. Schübe müssen mit hochdosierten Glucocorticoiden oder Plasmaseparation behandelt werden, um eine residuelle Behinderung abzuwenden. Im Intervall ist eine immunsuppressive Therapie indiziert, wobei für die schubförmige AQP4-AK-positive NMOSD Eculizumab zur Verfügung steht. Als Off-Label-Therapie werden auch Substanzen wie Rituximab und Azathioprin eingesetzt. Wichtigste Differenzialdiagnose der NMOSD ist die Multiple Sklerose.

  1. Beschreibung der Neuromyelitis optica (NMO, Dévic-Syndrom) (spätes 19. Jahrhundert) als chronisch-entzündliche ZNS-Erkrankung mit
  2. Entdeckung von Aquaporin-4-Antikörpern als pathophysiologischer Mechanismus hinter der NMO (Beginn des 21. Jahrhunderts) [1]
  3. Zusammenfassung der NMO und weiterer durch Aquaporin-4-Antikörper verursachter chronisch-entzündlicher Krankheitsbilder: Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD)
  4. Festlegung von Diagnosekriterien für NMOSD
    • Anhand des Antikörperbefundes und
    • Auswahl klinischer Kardinalsymptome bei NMOSD
  • Seltene Erkrankung
  • Inzidenz: 0,053 bis 0,4 Fälle/100.000 Einwohner:innen pro Jahr [2]
  • Prävalenz: 0,3 bis 4,4 Fälle/100.000 Einwohner:innen [2]
  • Manifestationsalter: Altersgipfel im 4. Lebensjahrzehnt
    • 4% im Kindesalter
  • Geschlecht: >> (9:1)
  • Auftreten: I.d.R. sporadisch, selten (3%) familiär gehäuft [3]
  • Assoziation mit Autoimmunerkrankungen: ⅓ der Erkrankten, darunter [4]

Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.

  • Unbekannt

Verlauf

  • I.d.R. schubförmig (90%)
  • Selten monophasisch (10%)
  • Keine chronisch-progredienten Verläufe wie bei der MS

Symptome nach Manifestationsort

Entsprechend der Pathophysiologie der NMOSD ergeben sich die Symptome infolge einer demyelinisierenden Entzündung an ZNS-Lokalisationen, an denen Aquaporin-4 exprimiert wird.

Diagnostische Prinzipien

  1. Anamnese und Untersuchungsbefund → Verdacht auf chronisch-entzündliche ZNS-Erkrankung
  2. Ausschluss von Differenzialdiagnosen mittels Bildgebung, Liquor- sowie weiterer Labordiagnostik, siehe insb.
  3. Anwendung der Diagnosekriterien der NMOSD

Bildgebung

  • Indikation
    • Jede Erstmanifestation mit V.a. NMOSD (sowohl kraniales als auch spinales MRT)
    • Verlaufsuntersuchungen insb. bei atypischer Klinik
  • Sequenzen
    • T1 (mit und ohne Gadolinium-Applikation), T2 nativ, jeweils axial und sagittal
    • Ggf. Dünnschichtaufnahmen bei Beteiligung des N. opticus oder Hirnstamms
  • Befunde

Liquordiagnostik

  • Stellenwert: Wichtig insb. zur Differenzialdiagnostik
  • Zytologie: Leichte lymphogranulozytäre Pleozytose (häufig), im Schub bis über >50 Zellen/μL
  • Oligoklonale Banden: Positiv in 10–20% der Fälle, dann häufig passagerer Befund
  • MRZ-Reaktion: I.d.R. negativ

Antikörper-Diagnostik im Serum

  • AQP4-Antikörper: Antikörper gegen Aquaporin-4 (AQP4)
    • Indikation: Verdacht auf NMOSD
    • Befund
      • Positiv in 70% der Fälle [3]
      • Häufig: Serokonversion im Verlauf
      • Möglich: Seronegativität nach Therapie oder geringer Krankheitsaktivität
  • Hinweise
    • Antikörper-Diagnostik jeweils mittels zellbasiertem Testverfahren (Goldstandard)
    • Bei negativer Testung und fortbestehendem NMOSD-Verdacht: Wiederholung im Verlauf

Weitere Diagnostik [7][8]

Diagnosekriterien der NMOSD [9]

Diagnosekriterien der NMOSD mit AQP4-Antikörpern

Diagnosekriterien der NMOSD ohne AQP4-Antikörper (bzw. unbekanntem AQP4-Antikörper-Status)

Sämtliche Kriterien sind obligat

  1. Fehlen von AQP4-Antikörpern oder unbekannter Status
  2. Ausschluss von Differenzialdiagnosen
  3. Mind. zwei betroffene Regionen (siehe: Kardinalsymptome bei NMO-Spektrum-Erkrankungen) im Rahmen eines oder mehrerer akuter Schübe, die alle folgenden Subkriterien erfüllen
    1. Mind. ein Kardinalsymptom ist
    2. Nachweis örtlicher Dissemination (≥2 Kardinalsymptome)
    3. MRT-Kriterien des jeweils vorliegenden Kardinalsymptoms erfüllt

Kardinalsymptome bei NMO-Spektrum-Erkrankungen

Multiple Sklerose

  • Wesentlich häufiger als die NMOSD
  • Die sorgfältige differenzialdiagnostische Abgrenzung ist nicht zuletzt im Hinblick auf unterschiedliche Therapieansätze im Intervall wichtig!
  • Veraltet: Die Neuromyelitis optica wurde lange als Subtyp der Multiplen Sklerose klassifiziert, kann aber spätestens seit 2004 (Entdeckung der Aquaporin-4-Antikörper) als eigenständige Entität abgegrenzt werden.

Gegenüberstellung von Multipler Sklerose und NMOSD

Gegenüberstellung von Multipler Sklerose und NMOSD
Multiple Sklerose NMOSD
Verlauf
  • Schubförmig
  • Chronisch-progredient (insb. sekundär)
  • I.d.R. Schubförmig
  • Selten monophasisch
  • Keine chronisch-progredienten Verläufe
Optikusneuritis Seite
  • I.d.R. einseitig
  • Ein- oder beidseitig
Ausprägung
  • Meist gering- oder mäßiggradiger Visusverlust
  • I.d.R. gute Rückbildung
  • Erblindung sehr selten
  • Hochgradiger Visusverlust
  • Häufig ausgeprägtes residuelles Defizit
  • Erblindung möglich
MRT
  • Häufig langstreckige Veränderung
  • Häufig Einbeziehung des Chiasma opticum
VEP
  • Latenzverlängerung
  • Latenzverlängerung und ggf. Amplitudenreduktion
Myelitis Ausprägung
MRT
  • Myelonläsionen i.d.R. kurzstreckig und umschrieben
  • Häufig ausgedehnte longitudinale Myelonläsionen (≥3 Wirbelkörpersegmente)
  • Teils ödematös aufgetrieben
cMRT Zerebrale Läsionen
  • Meist vorhanden
  • Häufig keine oder wenige
Läsionsorte
  • In eher MS-untypischer Lokalisation und Konfiguration, etwa
    • Periependymal im Hirnstamm
    • Langstreckige, diffuse Balkenläsionen
    • Subkortikal oder im tiefen Marklager (häufig als ausgedehnte, konfluierende Läsionen, sowohl uni- als auch bilateral)
Liquor Oligoklonale Banden
  • Positiv in 95–97% der Fälle, persistierend
  • Positiv in 10–20% der Fälle, häufig passagerer Befund
MRZ-Reaktion
  • Sehr häufig positiv
  • I.d.R. negativ
Zytologie
  • Normale Zellzahl oder leichte lymphomonozytäre Pleozytose
Anti-AQP4-Antikörper im Serum
  • Negativ
  • Positiv in 70% der Fälle

Weitere Differenzialdiagnosen

AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Behandlung der NMOSD umfasst zwei Therapiesäulen:

  1. Schubtherapie
  2. Intervalltherapie

Schubtherapie [8]

  • Die Schubtherapie sollte frühstmöglich erfolgen

Glucocorticoid-Hochdosistherapie

Plasmaseparation

Intervalltherapie [8]

Therapien der 1. Wahl

Eculizumab [7]

Rituximab [7]

Azathioprin [7]

Bei Multipler Sklerose angewandte verlaufsmodifizierende Therapien sind bei Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen nicht wirksam (Glatirameracetat) bzw. können die Erkrankung sogar verschlechtern (etwa Interferon-β, Natalizumab, Alemtuzumab und Fingolimod)!

Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2023, DIMDI.

  1. Lennon et al.: IgG marker of optic-spinal multiple sclerosis binds to the aquaporin-4 water channel In: Journal of Experimental Medicine. Band: 202, Nummer: 4, 2005, doi: 10.1084/jem.20050304 . | Open in Read by QxMD p. 473-477.
  2. Marrie, Gryba: The Incidence and Prevalence of Neuromyelitis Optica In: International Journal of MS Care. Band: 15, Nummer: 3, 2013, doi: 10.7224/1537-2073.2012-048 . | Open in Read by QxMD p. 113-118.
  3. Weinshenker, Wingerchuk: Neuromyelitis Spectrum Disorders In: Mayo Clinic Proceedings. Band: 92, Nummer: 4, 2017, doi: 10.1016/j.mayocp.2016.12.014 . | Open in Read by QxMD p. 663-679.
  4. Pfeuffer et al.: NMO-Spektrum-Erkrankungen In: Aktuelle Neurologie. Band: 44, Nummer: 03, 2017, doi: 10.1055/s-0042-124178 . | Open in Read by QxMD p. 180-193.
  5. Hufschmidt et al.: Neurologie compact. 7. Auflage Thieme 2017, ISBN: 978-3-131-17197-9 .
  6. Nour et al.: Pregnancy outcomes in aquaporin-4–positive neuromyelitis optica spectrum disorder In: Neurology. Band: 86, Nummer: 1, 2015, doi: 10.1212/wnl.0000000000002208 . | Open in Read by QxMD p. 79-87.
  7. Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen, S2k-Leitlinie, 2021. Stand: 10. Mai 2021. Abgerufen am: 26. Mai 2021.
  8. Virtuelles Qualitätshandbuch. . Abgerufen am: 22. Dezember 2022.
  9. Qualitätshandbuch MS/NMOSD 2021 – Empfehlungen zur Therapie der Multiple Sklerose / Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen für Ärzte. Stand: 19. Juli 2019. Abgerufen am: 12. Februar 2020.
  10. Traboulsee et al.: Safety and efficacy of satralizumab monotherapy in neuromyelitis optica spectrum disorder: a randomised, double-blind, multicentre, placebo-controlled phase 3 trial. In: The Lancet. Neurology. Band: 19, Nummer: 5, 2020, doi: 10.1016/S1474-4422(20)30078-8 . | Open in Read by QxMD p. 402-412.
  11. Yamamura et al.: Trial of Satralizumab in Neuromyelitis Optica Spectrum Disorder In: New England Journal of Medicine. Band: 381, Nummer: 22, 2019, doi: 10.1056/nejmoa1901747 . | Open in Read by QxMD p. 2114-2124.
  12. Inebilizumab (neuromyelitis optica spectrum disorders [NMOSD]) – Benefit assessment according to § 35a SGB V. Stand: 2. November 2022. Abgerufen am: 28. Dezember 2022.
  13. Nutzenbewertungsverfahren zum Wirkstoff Inebilizumab. Stand: 1. November 2022. Abgerufen am: 28. Dezember 2022.
  14. Wingerchuk et al.: International consensus diagnostic criteria for neuromyelitis optica spectrum disorders In: Neurology. Band: 85, Nummer: 2, 2015, doi: 10.1212/wnl.0000000000001729 . | Open in Read by QxMD p. 177-189.
  15. Pittock, Lucchinetti: Neuromyelitis optica and the evolving spectrum of autoimmune aquaporin-4 channelopathies: a decade later In: Annals of the New York Academy of Sciences. Band: 1366, Nummer: 1, 2015, doi: 10.1111/nyas.12794 . | Open in Read by QxMD p. 20-39.
  16. Gleiser et al.: Aquaporin-4 in Astroglial Cells in the CNS and Supporting Cells of Sensory Organs—A Comparative Perspective In: International Journal of Molecular Sciences. Band: 17, Nummer: 9, 2016, doi: 10.3390/ijms17091411 . | Open in Read by QxMD p. 1411.
  17. S2e-Leitlinie Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose. Stand: 1. April 2014. Abgerufen am: 3. Juli 2017.
  18. Pandit et al.: Demographic and clinical features of neuromyelitis optica: A review In: Multiple Sclerosis Journal. Band: 21, Nummer: 7, 2015, doi: 10.1177/1352458515572406 . | Open in Read by QxMD p. 845-853.
  19. Jarius et al.: Contrasting disease patterns in seropositive and seronegative neuromyelitis optica: A multicentre study of 175 patients In: Journal of Neuroinflammation. Band: 9, Nummer: 1, 2012, doi: 10.1186/1742-2094-9-14 . | Open in Read by QxMD .
  20. Décard et al.: Differenzialdiagnose der Multiplen Sklerose (MS) - MS Mimicks In: Aktuelle Neurologie. Band: 39, Nummer: 02, 2012, doi: 10.1055/s-0032-1304603 . | Open in Read by QxMD p. 83-99.
  21. Kim et al.: Cerebral Cortex Involvement in Neuromyelitis Optica Spectrum Disorder In: Journal of Clinical Neurology. Band: 12, Nummer: 2, 2016, doi: 10.3988/jcn.2016.12.2.188 . | Open in Read by QxMD p. 188.