Abstract
Geriatrie wurde lange als das „Heilen von somatischen und psychiatrischen Erkrankungen des alten Menschen“ angesehen. Jedoch greift diese Übersetzung zu kurz, da sich die Erkrankungen von alten Patienten nicht per se von denen der Jüngeren unterscheiden, sondern sich insbesondere durch die physiologischen Funktionseinschränkungen im Alter sowie durch eine Multimorbidität auszeichnen. Das Fachgebiet der Geriatrie ist eine fächerübergreifende Disziplin, die große Überschneidungen zu Innerer Medizin, Orthopädie, Neurologie und Psychiatrie aufweist, darüber hinaus aber auch besonderen Wert auf die Beachtung psychosozialer und sozialmedizinischer Aspekte legt. Neben den diagnostischen und therapeutischen Gesichtspunkten stehen insbesondere die Prävention von Erkrankungen und eine geeignete Rehabilitation im Mittelpunkt einer geriatrischen Behandlung, die den Patienten bestmöglich in Erhaltung seiner Autonomie unterstützt.
Was ist Geriatrie?
- Definition: Geriatrie (von griech. gérōn = „Greis“ und iatreía = „das Heilen“): Kann als das „Heilen von somatischen und psychiatrischen Erkrankungen des alten Menschen“ übersetzt werden. Die Übersetzung greift jedoch zu kurz, da sich die Erkrankungen von alten Patienten nicht per se von denen der Jüngeren unterscheiden.
- Aufgaben
- Risikoerkennung und Prävention
- Behandlung von chronischen Erkrankungen
- Rehabilitation und Weiterversorgung
- Begleitung der Patienten (auch bis zum Tod)
Der geriatrische Patient
Definition
- Geriatrischer Patient
- Definiert gemäß der deutschen Gesellschaft für Geriatrie durch
- entweder
- Geriatrietypische Multimorbidität und
- Höheres Lebensalter (i.d.R. >70 Jahre)
- oder
- Lebensalter >80 Jahre und
- Erhöhte Vulnerabilität durch altersbedingte Funktionseinschränkungen
- Verschlechterung des Selbsthilfestatus
- entweder
- Definiert gemäß der deutschen Gesellschaft für Geriatrie durch
Alter allein ist kein Kriterium für die Definition eines geriatrischen Patienten!
Physiologische Veränderungen im Alter
Alterspezifische Veränderungen beruhen auf der Abnahme der physiologischen Funktionsfähigkeit im Alter
- Die vier geriatrischen I's: Beschreiben die herabgesetzte körperliche Belastbarkeit bzw. die „Altersschwäche“
- Inkontinenz
- Intellektuelle Verluste
- Alzheimer-Demenz oder Multi-Infarkt-Demenz führen zur Reduktion der geistigen Leistungsfähigkeit und zu kognitiven Defiziten
- Instabilität
- Muskelschwäche, Sarkopenie sowie „Schwindel“ und Seh- und/oder Hörbehinderung führen zu erhöhter Sturzneigung (sog. Sturz-Syndrom)
- Immobilität
- Degenerative Muskel-, Knochen- und Gelenkveränderungen oder kardiovaskuläre Erkrankungen mit starker Dyspnoe führen zu Bettlägerigkeit
- Zusätzlich bestehen häufig
- Fehl- und Mangelernährung
- Störungen im Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt
Altsein ist per se keine Krankheit, es macht jedoch für Krankheiten empfänglicher!
Erkrankungen im Alter
-
Krankheitsbilder können sich atypisch präsentieren
- Irreführende oder fehlende Symptome
- Symptomverschiebung
- Maskierung von Erkrankungen durch verminderte körperliche Belastbarkeit
- Einige Erkrankungen treten erst nach langer Latenz in Erscheinung oder entstehen erst infolge langfristiger Schädigung durch Kumulation
- Häufig bestehen mehrere Erkrankungen nebeneinander → Multimorbidität
- Insbesondere die Koexistenz von somatischen (Herzinsuffizienz, Mangelernährung) und psychischen (Demenz, Depression) Erkrankungen kann zu einer Konzentration auf und damit zur Verstärkung der Krankheitssymptome führen
- Häufig bestehen Mehrfachmedikationen und eine herabgesetzte Medikamententoleranz
- Siehe auch: Potenziell inadäquate Medikation
Häufige Diagnosen geriatrischer Patienten
- Neurologisch
- Schlaganfall und andere akute zerebrovaskuläre Erkrankungen
- Morbus Parkinson
- Kardiovaskulär
- KHK und dekompensierte Herzinsuffizienz
- Periphere arterielle Verschlusskrankheit → Schmerz, OP-Bedürftigkeit, Amputationen
- Bewegungsapparat
- Osteoporose und Frakturen (z.B. hüftgelenksnahe Frakturen) und Verletzungen
- Koxarthrose und Gonarthrose →Endoprothese
- Gerontopsychiatrisch
- Demenz
- Depression
- Suizidalität im Alter
- Paranoide Syndrome
Das gleichzeitige Bestehen von mehreren somatischen und psychischen Erkrankungen sowie eine herabgesetzte physiologische Funktionsfähigkeit im Alter machen eine Priorisierung der medizinischen Maßnahmen notwendig!
Diagnostik in der Geriatrie
Die Diagnostik in der Geriatrie erfasst neben den bestehenden medizinischen Problemen auch die sozialen Umstände eines Patienten. So kann eine Radiusfraktur einer 85-jährigen Dame, die keine kognitiven Einschränkungen aufweist und in ihrer Familie Unterstützung im Alltag erfährt, unproblematisch ausheilen, während die gleiche Fraktur bei einer alleinstehenden 78-Jährigen die Betreuung in einem Pflegeheim bedeuten kann. Daher kommt einer umfassenden Einschätzung des Patienten, dem sog. geriatrischen Basisassessment, eine besondere Bedeutung zu.
- Charakteristika
- Multidimensionale Erfassung der Krankheiten
- Entwicklung und Optimierung eines Behandlungs- und Betreuungsplans
- Formulierung realistischer Therapieziele
- Verlaufsbeobachtung
- Ziele: Verbesserung der Lebensqualität und funktioneller Fähigkeiten, so dass Versorgungsleistungen reduziert werden können
- Beispiele
- Barthel-Index: Abschätzung der Fähigkeiten zur selbstständigen Bewältigung des täglichen Lebens
- Tinetti-Test: Abschätzung des Sturzrisikos
- Mini-Mental-State-Examination (MMSE): Einschätzung der Orientierung und der kognitiven Fähigkeiten
- Weitere Tests: Geriatrische Depressions-Skala (GDS), Soziale Situation (SoS), Handkraft, Geld zählen, Timed Up and Go , Clock Completion (CC) / Uhren-Test
Entscheidungen über diagnostische und therapeutische Maßnahmen im höheren Lebensalter sollen an ein Funktionsassessment und nicht an das kalendarische Alter gekoppelt werden. (DGIM - Klug entscheiden in der Geriatrie)
Stürze und Sturzrisiko im höheren Lebensalter sollen diagnostisch und interventionell Beachtung finden. (DGIM - Klug entscheiden in der Geriatrie)
Mangelernährung beim geriatrischen Patienten soll diagnostisch und interventionell Beachtung finden. (DGIM - Klug entscheiden in der Geriatrie)
Tinetti-Test
Gesamtbeurteilung[1]
Der Tinetti-Test besteht aus einem Gleichgewichts- und einem Gehtest. Insgesamt kann eine maximale Punktzahl von 28 erreicht werden.
- <19 Punkte: Hohes Sturzrisiko
- 19–23 Punkte: Moderates Sturzrisiko
- 24–28 Punkte: Geringes Sturzrisiko
Gleichgewichtstest
Der Patient sitzt zu Beginn in einem harten Stuhl ohne Armlehnen. Es können maximal 16 Punkte erreicht werden.
0 Punkte | 1 Punkt | 2 Punkte | |
---|---|---|---|
Gleichgewicht im Sitzen | Anlehnen oder Verrutschen im Sitzen | Ruhig und sicher | - |
Aufstehen vom Stuhl | Unmöglich ohne Hilfe | Möglich, aber mit Abstützen der Arme | Möglich, ohne Zuhilfenahme der Arme |
Versuch aufzustehen | Unmöglich ohne Hilfe | Möglich, aber mit mehr als einem Versuch | Möglich, nur ein Versuch |
Balance in den folgenden ersten 5 Sek. | Unsicher | Sicher mit Gehilfe/Gehstock/Unterstützung | Sicher auch ohne Gehilfe/Gehstock/ Unterstützung |
Stehsicherheit | Unsicher | Sicher mit breitem Fußstand bzw. Gehilfe/Gehstock/Unterstützung | Sicher mit engem Fußstand, keine Unterstützung nötig |
Stehsicherheit beim Stoß gegen die Brust und geschlossenen Füßen | Droht zu fallen | Stolpernd, Versuch nach Unterstützung zu greifen, aber fähig sich abzufangen | Sicher |
Balance mit geschlossenen Augen und Füßen | Unsicher | Sicher | – |
Drehung um 360° | Unsicher, nicht-flüssige Schrittfolge | Sicher, flüssige Schrittfolge | – |
Abschließendes Hinsetzen | Unsicher (Fehleinschätzung der Entfernung, fällt in den Stuhl) | Mit Unterstützung der Arme bzw. in nicht-flüssiger Bewegung | Sicher, in einer flüssigen Bewegung |
Gehtest
Der Patient läuft einen Gang entlang bzw. durch den Raum, zunächst in der eigenen „üblichen“ Geschwindigkeit, dann zurück in „schneller, aber sicherer“ Geschwindigkeit. Gehilfen wie Rollator oder Gehstock dürfen genutzt werden, wenn notwendig. Es können maximal 12 Punkte erreicht werden.
0 Punkte | 1 Punkt | 2 Punkte | |
---|---|---|---|
Schrittauslösung | Jegliches Zögern oder mehrere Versuche nötig | Ohne Zögern | – |
Schrittlänge | Rechtes Bein als Schwungbein: Rechter Fuß setzt nicht vor dem linkem Fuß auf | Rechtes Bein als Schwungbein: Rechter Fuß setzt vor dem linken Fuß auf | – |
Linkes Bein als Schwungbein: Linker Fuß setzt nicht vor dem rechten Fuß auf | Linkes Bein als Schwungbein: Linker Fuß setzt vor dem rechten Fuß auf | ||
Schritthöhe | Rechtes Bein als Schwungbein: Kein vollständiges Ablösen des rechten Fußes vom Boden | Rechtes Bein als Schwungbein: Vollständiges Ablösen des rechten Fußes vom Boden | – |
Linkes Bein als Schwungbein: Kein vollständiges Ablösen des linken Fußes vom Boden | Linkes Bein als Schwungbein: Vollständiges Ablösen des linken Fußes vom Boden | ||
Schrittsymmetrie, von der Seite beobachtet | Schrittlänge rechts und links unterschiedlich | Schrittlänge rechts und links gleich | – |
Gangkontinuität | Anhalten oder Diskontinuität zwischen Schritten | Gleichmäßige Schrittfolge | – |
Schrittpfad bzw. Wegabweichung | Deutliche Abweichung | Milde oder moderate Abweichung bzw. mit Gehhilfe | Gerade, ohne Gehhilfe |
Rumpfstabilität | Deutliches Schwanken bzw. mit Gehhilfe | Kein Schwanken, aber Flexion der Kniegelenke oder des Rückens bzw. Ausbreiten der Arme beim Gehen | Sicher ohne Schwanken, ohne Flexion der Kniegelenke oder Rückenbeugung, keine Unterstützung durch Arme oder Gehilfe |
Schrittbreite, von hinten beobachtet | Deutlicher Abstand der Fersen (breiter Gang) | Geringer Abstand der Fersen (enger Gang) | – |
Therapie in der Geriatrie
Allgemeine Prinzipien
- Die komplexen Probleme eines geriatrischen Patienten erfordern häufig eine interprofessionelle Behandlung durch Ärzte, Psychotherapeuten, Logo-/ Ergo-/ und Physiotherapeuten sowie durch Sozialdienst und Ernährungsberatung.
- Die Wahl der therapeutischen Maßnahmen ist insbesondere anhand der Verbesserung der Lebensqualität vorzunehmen, auch wenn hierdurch keine Lebensverlängerung bewirkt werden kann.
- Krankenhausaufnahmen sollten vermieden werden, da sie vorhandene Orientierungsstörungen häufig aggravieren und die Lebensqualität der Patienten oft einschränken.
Ältere Patienten sollen während ihres Krankenhausaufenthaltes früh mobilisiert werden. (DGIM - Klug entscheiden in der Inneren Medizin)
Pharmakotherapie
Alter und Mehrfachmedikation
- >70-Jährige erhalten im Durchschnitt drei verschiedene Arzneimittel/Tag
- 35% erhalten 5 bis 8 verschiedene Arzneimittel/Tag
- 15% erhalten mehr als 13 verschiedene Arzneimittel/Tag
- 80–85-Jährige erhalten die höchste Anzahl täglich einzunehmender Medikamente
Für die Population mit dem höchsten Medikamentenverbrauch (80- bis 85-Jährige) gibt es die geringste Evidenz hinsichtlich der pharmakologischen Wirkungen und des Risiko-Nutzen-Verhältnisses!
Die Neuverordnung eines Medikamentes soll nicht ohne Überprüfung der bestehenden Medikation erfolgen. (DGIM - Klug entscheiden in der Geriatrie)
Prinzipien der Medikamenten‐Verordnung im Alter
Start low – go slow (Beginn mit der niedrigsten Dosis und langsame Dosissteigerung je nach Verträglichkeit)!
- Möglichst vermeiden: Therapiebeginn mit mehreren Medikamenten gleichzeitig!
- Physiologische Veränderungen im Alter: Beeinflussen Organfunktionen, Pharmakokinetik und Pharmakodynamik
-
Pharmakokinetik (LADME-Prinzip)
- Liberation und Absorption: Bspw. Schluckstörungen → Erschwerte Applikation von oralen Medikamenten
- Distribution
- Erniedrigter Anteil an Körperwasser = Geringerer Verteilungsraum für hydrophile Medikamente
- Erniedrigte Plasmaproteine = Erhöhter Anteil freier Wirkstoffe → CAVE: Vergiftungssyndrome (= Toxidrome)
- Erhöhter Anteil an Körperfett = Erhöhter Verteilungsraum für lipophile Medikamente
- Metabolisierung: Erniedrigter renaler und hepatischer Blutfluss, Abnahme von Lebermasse und Leberfunktion
- Elimination: Das Alter und häufige, geriatrische Erkrankungen reduzieren die Nierenfunktion
-
Pharmakokinetik (LADME-Prinzip)
- Maßnahmen zur Vermeidung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen
- Beschränkung der Medikamentenanzahl
- Vermeidung von Verschreibungskaskaden
- Medikamente mit hohem Interaktionspotenzial meiden
- Verordnung von Medikamenten mit adäquater Halbwertszeit
- Vermeidung oder Dosisreduktion von Medikamenten mit anticholinergem Potenzial
- Bspw. bei Anwendung von Antihistaminika der 1. Generation bei Personen ≥65 Jahre: Möglichst niedrig dosieren, kurzfristig anwenden (max. 2 Wochen), Empfehlungen der Fach- und Gebrauchsinformation berücksichtigen [2]
- Beachtung der ggf. geringen Übertragbarkeit von Studienergebnissen
- Beschränkung der Medikamentenanzahl
- Potenziell inadäquate Medikation
- Definition: Bezeichnet Medikamente oder Kombinationen von Medikamenten, die aufgrund von pharmakokinetischen und -dynamischen Eigenschaften ungeeignet für ältere Menschen sind.
- Beers-Liste (siehe Tipps & Links)
- Medikamente, die Patienten >65 Jahre nicht erhalten sollten
- Priscus-Liste [3]
- Versuch Beers-Liste auf Deutschland zu übertragen
- Beers-Liste (siehe Tipps & Links)
- Definition: Bezeichnet Medikamente oder Kombinationen von Medikamenten, die aufgrund von pharmakokinetischen und -dynamischen Eigenschaften ungeeignet für ältere Menschen sind.
Je älter der Patient, desto größer ist die Zahl der unerwünschten Arzneimittelwirkungen!
Je mehr Medikamente gleichzeitig verabreicht werden, desto häufiger treten unerwünschte Arzneimittelwirkungen auf!
Studientelegramme zum Thema
- DGIM-Sonderausgaben zu Überversorgung in der Inneren Medizin
- DGIM-Studientelegramm 3-2020-3/7: OPTIMISE: Absetzen von Antihypertensiva im Alter
- DGIM-Studientelegramm 3-2020-4/7: Kein Vorteil von Low-Dose ASS für die Kognition
- DGIM-Studientelegramm 2-2020-3/4: Schleifendiuretika zur Behandlung Calciumkanalblocker-induzierter Unterschenkelödeme: Eine häufige und vermeidbare Verschreibungskaskade
- DGIM-Studientelegramm 1-2020-5/5: Potenziell schädliche Medikamente für ältere Patienten: zu häufig und zu lang eingesetzt
- One-Minute Telegram (aus unserer englischsprachigen Redaktion)
- One-Minute Telegram 6-2020-2/3: Do individualized care programs prevent falls in the elderly?
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