Zusammenfassung
Die neuralgische Amyotrophie ist eine schmerzhafte, meist einseitige Erkrankung peripherer Nerven. Am häufigsten sind proximale Abschnitte mehrerer Nerven distal des Plexus brachialis betroffen. Ätiologisch wird eine multifaktorielle Genese mit immunologischen und genetischen Faktoren vermutet, wobei häufig vorangegangene Triggerfaktoren wie bspw. mechanische Belastung oder virale Infektionen identifiziert werden können. Die Erkrankung beginnt klassischerweise akut mit heftigsten, typischerweise nächtlichen Schulterschmerzen. In den folgenden Stunden bis Tagen entwickeln sich Lähmungserscheinungen und Atrophien der Schulter-Arm-Muskulatur. Therapeutisch werden akut Glucocorticoide sowie analgetische Medikamente verabreicht. Es wird so schnell wie möglich begonnen, die Schulter passiv und aktiv zu bewegen, um eine Einsteifung des Schultergelenks zu verhindern. Zum Teil können bei persistierenden Lähmungen neurochirurgische Therapien erwogen werden. Neben dem klassischen Verlauf sind auch weitere Verläufe, bspw. mit beidseitigen Paresen, Beteiligung des N. phrenicus, von Beinnerven oder mit nur einem einzigen betroffenen Nerv möglich.
Epidemiologie
Ätiologie
- Idiopathisch (häufigere Form) [2][3]
- Wahrscheinlich immunologisch bedingt
- Potenzielle immunogene Trigger
- Kürzlich stattgehabte virale oder bakterielle Infektion oder Impfung [4]
- Mechanische Belastung, Trauma, OP
- Schwangerschaft oder Geburt
- Immuntherapie, bspw. mit Checkpoint-Inhibitoren
- Hereditär (seltenere Form): Autosomal-dominanter Erbgang [2]
Pathophysiologie
- Genaue Pathophysiologie nicht bekannt
- Angenommener Pathomechanismus: Zusammentreffen mechanischer und immunogener Reize löst immunologische Reaktion aus [3][2]
- Genetisch bedingte Prädisposition (bei hereditärer Form)
- Mikrotraumen der betroffenen Nerven (bspw. durch sportliche Überlastung) → Erhöhte Permeabilität der Blut-Nerven-Schranke
- Immunogener Trigger (bspw. Hepatitis-E-Infektion) → Lymphozytäre Infiltration durch Blut-Nerven-Schranke → Initiation eines entzündlichen Prozesses → Ödematöse Nervenschwellung → Axonale Nervenschädigung
- Ödematöse Nervenschwellung → Defektheilung mit Bildung von Nervenstrikturen und -torsionen
Symptomatik
Klassischer Verlauf [2]
- Akutphase (innerhalb weniger Stunden)
- Starke Schmerzen unilateral in der Schulter, ggf. mit Ausstrahlung in Arm und Nacken
- Meist reißender/ziehender Dauerschmerz
- Plötzlicher Beginn, oft nachts
- Sensibilitätsstörungen meist vorhanden, jedoch initial wegen starker Schmerzen oft nicht wahrgenommen
- Chronische Phase (innerhalb weniger Tage bis Wochen)
- Ausbildung von Paresen und im Verlauf Atrophien (insb. der Schultergürtelmuskulatur)
- Bewegungsabhängiger Schmerz
- Im Verlauf Übergang zu muskuloskelettalem Schmerz
Weitere mögliche Verlaufsformen [2]
- Rein motorische Nervenschädigung: Initial schmerzloser Verlauf mit rein paretischen Symptomen
- Beteiligung von peripheren Nerven des Plexus lumbosacralis (Beinnerven): Schmerzen und Paresen der unteren Extremität
- Schädigung eines einzelnen peripheren Nervs
- Insb. bei Hepatitis-E-assoziierten Verläufen
- Beteiligung des N. phrenicus (Phrenikusparese): (Belastungs‑)Dyspnoe
- Beidseitige Symptomatik
Diagnostik
Allgemeines
- I.d.R. klinische Diagnose bei typischer Anamnese und passendem Untersuchungsbefund
- Labordiagnostik zum Ausschluss behandelbarer infektiöser Trigger
- Weitere Untersuchungen bei diagnostischer Unsicherheit oder bei schwierigem Verlauf (anhaltende Defizite >8 Wochen)
Anamnese [3]
- Schmerz
- Schmerzbeginn, -intensität , -charakter
- Lokalisation, ggf. Ausstrahlung
- Bewegungseinschränkungen aufgefallen?
- Sensibilitätsstörungen vorhanden?
- Triggerfaktoren erinnerlich?
- Familienanamnese: Ähnliche Symptomatik in der Familie bekannt?
- Besteht eine (Belastungs‑)Dyspnoe?
Da es bei einem Teil der Betroffenen zu einer Beteiligung des N. phrenicus (ein- oder beidseitig) kommt, sollte immer aktiv nach einer (Belastungs‑)Dyspnoe gefragt werden! [3]
Neurologische Untersuchung
- Typische Befunde: Paretische Muster, Atrophien und Sensibilitätsstörungen mit Bezug zu den Innervationsgebieten mehrerer peripherer Nerven (im Sinne einer Mononeuropathia multiplex)
- Neurologische Untersuchung der Motorik: Inspektion der Muskulatur, Untersuchung des Muskeltonus und Untersuchung der Muskelkraft
- Fokus bei klassischer Symptomatik mit Schulterschmerzen: Untersuchung der Rotatorenmanschette
- Häufige Befunde
- N. thoracicus longus (M. serratus anterior) → Scapula alata mit Medialstellung des Schulterblatts
- N. suprascapularis
- M. supraspinatus → Armhebung beeinträchtigt, insb. initiale Abduktion
- M. infraspinatus → Außenrotation beeinträchtigt
- N. axillaris (M. deltoideus) → Insb. Abduktion des Schultergelenks geschwächt
- Grundsätzlich Affektion aller Nerven des Plexus brachialis möglich, daher auch Untersuchung der
- Orthopädische Untersuchung der Schulter: Zum Ausschluss orthopädischer Schmerzursachen
- Häufige Befunde
- Fokus bei klassischer Symptomatik mit Schulterschmerzen: Untersuchung der Rotatorenmanschette
- Untersuchung der Sensibilität und neuroanatomische Zuordnung von Sensibilitätsstörungen
Weitere Untersuchungen [3]
- Labordiagnostik: Obligat zur Abgrenzung von Differenzialdiagnosen und zur Suche nach Triggerfaktoren
- Insb. Anti-HEV-IgM und -IgG, VZV-PCR, Borrelien-Serologie, COVID-19-Diagnostik
- Bildgebende Untersuchungen
- Indikation: Diagnosesicherung bei unklaren Fällen, Ausschluss von Differenzialdiagnosen , Beurteilung operativer Therapiemöglichkeiten
- Verfahren: MR-Neurografie oder hochauflösende Nervensonografie
- Häufig Nachweis struktureller Nervenschädigungen
- Elektrophysiologie: Insb. zur Abgrenzung von Differenzialdiagnosen und zur Verlaufsbeurteilung
- Bei klinischem V.a. eine Beteiligung des N. phrenicus: Lungenfunktionsuntersuchung und Sonografie zur Beurteilung der Zwerchfellbeweglichkeit
Therapie
- Pharmakotherapie [3]
- Schmerztherapie
- Nicht-steroidale Antirheumatika, bei unzureichender Schmerzkontrolle ggf. Opioide (siehe für Beispielschemata: Akutschmerztherapie in der Notaufnahme)
- Ggf. Co-Analgetika bei neuropathischem Schmerz oder Chronifizierung der Schmerzen, bspw. Pregabalin p.o.
- Glucocorticoide: Prednisolon p.o. , Beginn möglichst früh
- Schmerztherapie
- Physiotherapie [2][3]
- Frühzeitiger Therapiebeginn
- Ziele
- Erhalt der Beweglichkeit im Schultergelenk
- Verhinderung einer Frozen Shoulder als Komplikation
- Reduktion muskuloskelettaler Schmerzen
- Neurochirurgische Therapien [2][3]
- Indikation: Persistierende Paresen nach 3-monatiger Pharmakotherapie und korrespondierenden Faszikel- bzw. Nerventorsionen in der Bildgebung
- Verfahren: Intrafaszikuläre Neurolyse oder Durchtrennung des Nervs mit anschließender direkter Nervennaht oder mittels Nerventransplantation
Prognose
- Häufig unvollständige Rückbildung der Lähmungen und chronisches Schmerzsyndrom [2][3]
- Erhöhte Rezidivrate [2][3]
- Hereditäre Formen: Schlechtere Prognose mit häufigeren Rezidiven [2]
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- G54.-: Krankheiten von Nervenwurzeln und Nervenplexus
- G54.5: Neuralgische Amyotrophie
- Parsonage-Turner-Syndrom
- Schultergürtel-Syndrom
- G54.5: Neuralgische Amyotrophie
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.