Zusammenfassung
Dissektionen der Halsarterien (A. carotis interna oder A. vertebralis) treten meist spontan und seltener nach (Bagatell‑)Traumata auf und werden durch eine Einblutung in die Gefäßwand verursacht. Sie betreffen v.a. Erwachsene mittleren Alters und sind in der Altersgruppe bis 45 Jahre die häufigste Schlaganfallursache. Aus pathophysiologischer und therapeutischer Sicht werden extradurale von den seltenen intraduralen Dissektionen unterschieden.
Klinisch zeigen sich die Dissektionen mit plötzlich auftretenden Schmerzen (einseitige Hals- oder Nackenschmerzen oder frontotemporale Kopfschmerzen) und/oder neurologischen Defiziten. Letztere sind Folge von distal der Dissektion entstehenden embolischen Infarkten oder entwickeln sich als direkte Folge des Wandhämatoms. Häufig ist zudem ein ipsilaterales Horner-Syndrom zu beobachten.
Unbehandelt besteht ein hohes Risiko für einen ischämischen Schlaganfall (bis zu 80%). Der Goldstandard zur Diagnostik ist die MRT der Halsweichteile mit Angiografie. In der Akuttherapie liegt der Fokus auf der Behandlung des durch die Dissektion ausgelösten ischämischen Schlaganfalls. Zur Sekundärprophylaxe werden Thrombozytenfunktionshemmer oder seltener auch orale Antikoagulantien gegeben.
Lokalisation/Formen
- Typische extrakranielle Lokalisation: Insb. an Orten mit starken Scherkräften
- Karotisdissektionen: An der Pars cervicalis, 2–3 cm distal des Bulbus caroticus
- Vertebralisdissektion: Am Eintritt in die Querfortsätze und an der Atlasschleife
- Sonderfall intradurale Dissektion [1] (intrakranielle Dissektion)
- In ¾ der Fälle im vertebrobasilären Stromgebiet
- Primäre Form: Ausschließlich im Subarachnoidalraum
- Sekundäre Form: Durch Ausdehnung einer extrakraniellen Dissektion nach intrakraniell
- Hohes Risiko einer Subarachnoidalblutung!
Epidemiologie
- Inzidenz
- Karotisdissektionen: 2,5–3/100.000 Personen/Jahr [2]
- Vertebralisdissektionen: 1–1,5/100.000 Personen/Jahr [2]
- Intradurale Dissektionen: Selten, genaue Inzidenz aber unbekannt
- Häufigkeitsgipfel: Zwischen 40 und 45 Jahren
12,5–25% der juvenilen Schlaganfälle werden durch Dissektionen verursacht. Damit stellen Dissektionen die häufigste der „seltenen“ Schlaganfall-Ursachen dar! [2][3]
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Spontan: Auftreten ohne erkennbaren Auslöser oder provoziert nach sog. Bagatelltraumata
- Gehäuft bei Ehlers-Danlos- und Marfan-Syndrom sowie fibromuskulärer Dysplasie [1]
- Ätiologisch unklare saisonale Häufung im Herbst/Winter und Assoziation mit Atemwegsinfekten [4]
- Traumatisch: Im Rahmen von Unfällen (Verkehr, Sport) [2]
Pathophysiologie
Entstehung der Dissektion
Spontan oder durch (Bagatell‑)Traumata kommt es zu einem Einriss der Intima oder der Vasa vasorum mit Ausbildung verschiedener Arten von Dissektionen:
- Einriss der Intima
- Führt zur Entstehung von Thromben durch Aktivierung der intrinsischen Gerinnung und/oder
- Stenosierung des Gefäßlumens durch
- Ausbildung eines intramuralen Hämatoms
- Aneurysmatische Dilatation
- Einriss der Vasa vasorum
- Führt zur Ausbildung eines intramuralen Hämatoms ohne Kontakt zum Gefäßlumen
Gefahr von ischämischen Schlaganfällen durch
- Lösung embolischer Thromben (häufig)
- Stenose/Verschluss des Gefäßlumens durch das Wandhämatom und/oder den aufgelagerten intravaskulären Thrombus (seltener)
Symptomatik
Klassische Trias
- Kopf- oder Nackenschmerzen
- Horner-Syndrom
- Zeichen einer zerebralen Ischämie
Die klassische Präsentation einer Dissektion der Halsarterien ist die Trias aus plötzlichen Kopf- und/oder Nackenschmerzen, ipsilateralem Horner-Syndrom und Zeichen einer zerebralen Ischämie, wobei die meisten Patient:innen nicht alle drei Zeichen gleichzeitig erfüllen!
Kopf- oder Nackenschmerzen
- Sind das häufigste Symptom (70%)
- Karotisdissektion
- Pulsierende ipsilaterale frontotemporale Kopfschmerzen
- Schmerzen in der Submandibularregion
- Vertebralisdissektion: Okzipitale Kopf- und Nackenschmerzen
Alle Arten von Kopf- und Nackenschmerzen können als Symptom einer Dissektion auftreten!
Ipsilaterales Horner-Syndrom („Painful Horner's“)
- Karotisdissektion: Durch Läsion des Truncus sympathicus distal des Ganglion cervicale superius (postganglionäres Horner-Syndrom)
- Vertebralisdissektion: Durch Hirnstammischämie, bspw. Wallenberg-Syndrom (zentrales Horner-Syndrom)
Ischämischer Schlaganfall / TIA
- Unbehandelt bei bis zu 80% der Dissektionen der Halsarterien
- Meist arterioarterielle Embolie
- Karotisdissektion: Infarkte meist im Territorium der ipsilateralen A. cerebri media
- Klinik: Kontralaterale Paresen, Sensibilitätsstörungen sowie kortikale Symptome wie Aphasie, Apraxie, Neglect
- Siehe: Hirninfarkte im Karotisstromgebiet
- Vertebralisdissektion: Infarkte im Hirnstamm, Cerebellum oder Okzipitallappen
- Klinik: Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Ataxie, Sehstörungen, aber auch Paresen und Hirnnervenausfälle
- Siehe: Hirninfarkte im vertebrobasilären Stromgebiet
Weitere Symptome
- Pulssynchroner Tinnitus bei Karotisdissektion
- Hirnnervenausfälle aufgrund direkter Kompression durch das Wandhämatom bei Karotisdissektion
- Z.B. Nervus hypoglossus-Läsion (Hypoglossusparese): Abweichung der Zunge zur betroffenen Seite
Intradurale Dissektion
- Unspezifischere Symptomatik
- Prodromaler Kopfschmerz, ischämischer Schlaganfall/TIA und/oder Subarachnoidalblutung
Diagnostik
Die Diagnostik zum Nachweis einer Dissektion sollte sich auf zwei Verfahren stützen: MRT (alternativ CT) und farbkodierte Duplexsonografie!
- MRT der Halsweichteile inkl. axialer fettsupprimierter T1-Sequenz und KM-gestützter MR-Angiografie [1]
- Zeigt das pathognomonische Wandhämatom, Stenosen oder Kaliberunregelmäßigkeiten
- CAVE: Mehrheitlich zeigt sich das Hämatom erst ab dem 2. bis 4. Tag
- CT mit CT-A: Bei Kontraindikationen für eine MRT oder wenn MRT nicht verfügbar
- Farbduplexsonografie
- Zur Diagnosestellung
- Zur Verlaufskontrolle sowie zur Beurteilung der Hämodynamik
- Digitale Subtraktionsangiografie: Nur dann, wenn CT oder MRT keine klare Diagnosestellung ermöglichen oder wenn eine mechanische Thrombektomie erfolgen soll
Stellen sich Patient:innen aufgrund einer akuten Schlaganfallsymptomatik vor, dann unterscheidet sich die Akutdiagnostik auch bei vermuteter Dissektion zunächst nicht von der anderer Schlaganfälle und stützt sich auf die cCT (ggf. mit CT-Angiografie). Zur Diagnosesicherung folgt dann aber die Hals-MRT als Goldstandard!
Therapie
Akuttherapie [1]
- Ziele: Behandlung eines durch die Dissektion ausgelösten ischämischen Schlaganfalls
- Seltener: Bei intraduralen Dissektionen kann es auch zu einer SAB kommen
- Die systemische Thrombolysetherapie ist bei extrakraniellen Dissektionen ohne erhöhtes Komplikationsrisiko möglich
- Siehe: Schlaganfall - Akuttherapie im Krankenhaus
- Bei SAB siehe: Subarachnoidalblutung - Therapie
Bei Patient:innen mit ischämischem Schlaganfall durch eine Dissektion sollte im Lyse-Zeitfenster (nach Ausschluss von Kontraindikationen) eine systemische Thrombolysetherapie und/oder mechanische Thrombektomie erfolgen. Die Akuttherapie bei vermuteter Dissektion unterscheidet sich somit nicht von der anderer Schlaganfälle!
Primär- und Sekundärprophylaxe [1]
- Ziele: Verhütung von (weiteren) Schlaganfällen/TIAs
- Grundsätze
- Bevorzugt durch Thrombozytenaggregationshemmung (ASS), in Einzelfällen durch orale Antikoagulation
- Schnellstmöglicher Beginn (hohes Risiko für Ischämien in der Postakutphase!) [5]
Therapie mit Thrombozytenaggregationshemmern
- Wirkstoff: ASS
- Indikation und Dauer
- Dissektion mit Infarkt/TIA oder bei erhöhtem Rezidivrisiko : Lebenslang
- Dissektion ohne Infarkt/TIA: Bis zur restitutio ad integrum, aber i.d.R. ≤ 12 Monate
Orale Antikoagulation
- Wirkstoff: Vitamin-K-Antagonisten
- Indikation
- Klinisch stumme Mikroemboliesignale im transkraniellen Ultraschall
- Rezidivierende Infarkte trotz antithrombotischer Therapie mit ASS
- Flottierender Thrombus oder Pseudookklusion mit poststenotischer Flussreduktion
- Kontraindikation: Intradurale Dissektion (erhöhtes Blutungsrisiko!)
Eine Über-/Unterlegenheit der Thrombozytenfunktionshemmung vs. der oralen Antikoagulation ist bislang nicht nachgewiesen. Der Einsatz richtet sich daher v.a. nach pragmatischen pathophysiologischen Erwägungen!
Interventionelle Therapie
- Indikation: Nur in Einzelfällen , z.B. bei
- Versagen der konservativen Therapie
- Hämodynamischer Dekompensation im Versorgungsgebiet durch die Stenose
- Intraduraler Dissektion mit Subarachnoidalblutung
- Optionen
- Mechanische Thrombektomie
- Intraarterielle Thrombolyse
- Stent-Implantation bei intraduraler Dissektion
- Endovaskuläre (Coiling) oder neurochirurgische (Clipping) Intervention
Therapeutische Besonderheiten bei intraduraler Dissektion: Eine orale Antikoagulation ist kontraindiziert! Im Falle einer SAB wird eine endovaskuläre oder neurochirurgische Intervention empfohlen!
Prognose
- Rezidivrisiko erneuter Dissektionen [1]
- „Clustering“: Häufiges Auftreten weiterer Dissektionen an einer anderen Halsarterie innerhalb der ersten 4 Wochen (bis zu 26% der Fälle)
- Rezidivrisiko erneuter Schlaganfälle (1-Jahres-Rezidivrisiko)
- Ohne Therapie: Ca. 10% [6]
- Mit Therapie: 2,5% [7]
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- I72.-: Sonstiges Aneurysma und sonstige Dissektion
- Inklusive: Aneurysma (cirsoideum), (spurium), (rupturiert)
- Exklusive: Aneurysma: Aorta (I71.‑), arteriovenös, erworben (I77.0), arteriovenös o.n.A. (Q27.3), Herz (I25.3), Koronararterien (I25.4), Pulmonalarterie (I28.1), retinal (H35.0), zerebral (I67.1‑), Angeborene Dissektion präzerebraler Arterien (Q28.18), Varix aneurysmatica (I77.0)
- I72.0: Aneurysma und Dissektion der A. carotis
- I72.1: Aneurysma und Dissektion einer Arterie der oberen Extremität
- I72.2: Aneurysma und Dissektion der Nierenarterie
- I72.3: Aneurysma und Dissektion der A. iliaca
- I72.4: Aneurysma und Dissektion einer Arterie der unteren Extremität
- I72.5: Aneurysma und Dissektion sonstiger präzerebraler Arterien
- Aneurysma und Dissektion der A. basilaris (Stamm)
- Exklusive: Aneurysma und Dissektion: A. carotis (I72.0), A. vertebralis (I72.6)
- I72.6: Aneurysma und Dissektion der A. vertebralis
- I72.8: Aneurysma und Dissektion sonstiger näher bezeichneter Arterien
- I72.9: Aneurysma und Dissektion nicht näher bezeichneter Lokalisation
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.