Zusammenfassung
Kardiovaskuläre Vorerkrankungen gehen mit einem erhöhten perioperativen Risiko einher. Dieses gilt es präoperativ zu erfassen und die anästhesiologische Behandlung entsprechend zu optimieren. Aufgrund der erhöhten Inzidenz perioperativer Komplikationen sollten prä-, intra- und postoperativ Therapie und Überwachung des kardiovaskulären Risikopatienten ausgeweitet werden. Eine generelle Risikoreduktion ist schwierig, trotzdem können verschiedene Einzelkomponenten der individuell angepassten Betreuung zur Vermeidung kardiovaskulärer Komplikationen (wie bspw. Myokardinfarkt, -ischämie oder neu auftretende Rhythmusstörungen) beitragen. Bei Hochrisikopatienten kann zudem ein interdisziplinärer Austausch mit Prüfung von OP-Indikation, -ausmaß und -zeitpunkt sinnvoll sein. Für allgemeine Informationen zur Prämedikationsvisite siehe auch: Präoperative Evaluation und Aufklärung in der Anästhesiologie.
Screening und Risikoeinschätzung
Die Einschätzung des perioperativen Risikos und die Identifikation des Risikopatienten erfolgt über die
- Gezielte Anamnese: Einschätzen des perioperativen Risikos
- Präoperative Diagnostik: Siehe auch: Präoperative Diagnostik und Laboruntersuchungen
- Anwendung von Risikoscores zur Identifikation kardiovaskulärer Risikopatienten
Risikoscores zur Identifikation kardiovaskulärer Risikopatienten
Revised Cardiac Risk Index nach Lee (RCRI) [1]
- Risikofaktoren
- Herzinsuffizienz
- KHK (Angina pectoris und/oder Z.n. Myokardinfarkt)
- Zerebrovaskuläre Erkrankung in der Vorgeschichte
- Diabetes mellitus (insulinpflichtig)
- Niereninsuffizienz (Kreatinin >2 mg/dL)
- Hochrisikoeingriff (siehe auch: Eingriffsbezogenes Risiko)
- Risikoeinschätzung für perioperative kardiale Komplikationen
- Kein Risikofaktor: 0,4%
- 1 Risikofaktor: 0,9%
- 2 Risikofaktoren: 7%
- ≥3 Risikofaktoren: 11%
Revised Cardiac Risk Index nach Lee (Rechner)
MICA-Score (Myocardial infarction and cardiac arrest) [2]
Der MICA-Score ist weniger geläufig, eignet sich jedoch gut zur Abschätzung der Wahrscheinlichkeit schwerwiegender kardialer Komplikationen (perioperativer Myokardinfarkt oder Herztod innerhalb von 30 Tagen).
- Risikofaktoren
- ASA-Klassifikation des Patienten
- Risiko des Eingriffs (siehe auch: Kardiales Risiko operativer Eingriffe)
- Alter des Patienten
- Niereninsuffizienz (Kreatinin >1,5 mg/dL)
- Funktioneller Status des Patienten (selbstversorgend, teilweise oder ganz pflegebedürftig)
MICA-Score (Rechner)
Präoperatives Management
Präoperative Optimierung [3][4][5]
- Vormedikation
- Neuverordnung von Medikamenten [6][7]
-
Betablocker: Keine grundsätzliche Neuverordnung empfohlen, zu erwägen bei [8]
- Geplantem Eingriff mit hohem kardialen OP-Risiko bei Personen mit ≥2 kardialen Risikofaktoren nach Lee oder ASA-Klassifikation ≥3
- Allen Personen mit nachgewiesener KHK oder Myokardischämie unter Belastung
- Statine: Neuverordnung bei gefäßchirurgischen Eingriffen 2 Wochen präoperativ sinnvoll [6][7]
-
Betablocker: Keine grundsätzliche Neuverordnung empfohlen, zu erwägen bei [8]
- Unzureichende Vorbehandlung einer kardiovaskulären Grunderkrankung
- Elektive Eingriffe ggf. verschieben
- Kardiologisches Konsil zur Optimierung der Medikation
- Patient Blood Management vorbereiten
- Siehe auch: Eisensubstitution bei präoperativer Anämie
- Koronarangiografie und ggf. Revaskularisierung bei nachgewiesener Myokardischämie
- Elektive Eingriffe um mind. 90 Tage verschieben [4]
- Siehe auch: Diagnostik der KHK
Auswahl des Narkoseverfahrens
- Geringstmögliche Invasivität des Narkoseverfahrens
- Regionalanästhesie: Mögliche Vorteile, insb. bei peripherer Regionalanästhesie und thorakaler Periduralanästhesie
- Senkung des perioperativen Risikos für Komplikationen
- Verbesserung der Durchblutung
- Optimierung der postoperativen Schmerztherapie
- Kontraindikationen für rückenmarksnahe Regionalanästhesie beachten! (Insb. für Spinalanästhesie )
- Kontraindikationen bei Patienten unter Antikoagulation beachten!
- Siehe auch: Regionalanästhesie unter Antikoagulation
- Allgemeinanästhesie: Keine evidenzbasierte Überlegenheit einzelner Anästhetika [4][5]
- Kombination aus Allgemeinanästhesie und Regionalanästhesie (Kombinationsanästhesie)
- Bei großen abdominal- und thoraxchirurgischen Eingriffen [3][9]
- Kontraindikation der Regionalanästhesie bei Antikoagulation beachten!
- Siehe auch: Rückenmarksnahe Regionalanästhesie unter Antikoagulation: Empfohlene Sicherheitsabstände
Einplanung von Intensivkapazitäten
- OP-Ausmaß und -Dauer berücksichtigen
- Bei hohem kardialem Risiko: Bett reservieren und ggf. im Verlauf wieder freigeben
Intraoperatives Management
Narkoseeinleitung [3][10][11]
- Stressabschirmung
- Ausgiebige Präoxygenierung
Hämodynamisches Monitoring
- EKG: Zur Beurteilung der ST-Strecke
- Kontinuierliche Pulsoxymetrie
- Messung der Sauerstoffsättigung
- Detektion einer peripheren Minderdurchblutung
- Invasive Blutdruckmessung erwägen bei
- Hämodynamischer Instabilität
- Hämodynamisch relevanten Arrhythmien
- Erwarteten starken Blutdruckschwankungen
- Regulär: Anlage nach Narkoseeinleitung
- Bei hohem Risiko für folgenreiche Blutdruckabfälle: Anlage schon vor Narkoseeinleitung
- Große Eingriffe mit starker Volumenverschiebung
- Notwendigkeit der arteriellen Blutgasanalyse
- ZVK-Anlage erwägen bei
- Hoher Wahrscheinlichkeit für Katecholaminbedarf oder Elektrolytersatz
- Notwendigkeit der Messung von ZVD oder zentralvenöser Sauerstoffsättigung
- Siehe auch: Indikationen zur ZVK-Anlage
Narkoseführung [4][5]
- Perioperative Hypotension vermeiden [12][13]
- Steuerung der intraoperativen Blutdrucktherapie nach mittlerem arteriellen Blutdruck empfohlen (Zielwert: >65 mmHg) [14]
- Anästhetika und Opioide mit geringer Wirkung auf Hämodynamik bevorzugen
- Langsame und wirkungsadaptierte Dosierung (insb. bei älteren Patienten)
- Perioperative Hypothermie vermeiden [4][15]
- Patient Blood Management
- Fremdblutsparende Maßnahmen nutzen (siehe auch: Maschinelle Autotransfusion)
- Ausgleich eines intraoperativen Hb-Wertes <8 g/dL [16]
- Siehe auch: Indikationsstellung zur EK-Transfusion
Narkoseausleitung
- Muskelrelaxantien-Überhang sicher ausschließen
- Indikation zur intensivmedizinischen Überwachung großzügig stellen
Postoperatives Management
Postoperative Therapie und Überwachung
- Postoperative Überwachung
- Invasives hämodynamisches Monitoring im Aufwachraum und auf der Überwachungsstation weiterführen
- Hypotension vermeiden bzw. vorbeugen: Indikation zur engmaschigen Überwachung prüfen [17][18]
- Intensivstation/Intermediate Care Station erneut evaluieren
- Schmerztherapie
- Liegenden Periduralkatheter weiter nutzen
- Katheter zur peripheren Regionalanästhesie weiter nutzen oder ggf. postoperativ anlegen
- Siehe auch: Beispielalgorithmus für die Schmerztherapie auf Station