Zusammenfassung
Die Pflege bei psychiatrischen Erkrankungen basiert auf einer sorgfältigen Beobachtung sowie der sicheren medikamentösen Therapie und der strukturierten Unterstützung bei der Alltagsbewältigung. Im Zentrum steht der Aufbau einer professionellen therapeutischen Beziehung, die von Wertschätzung, Empathie und einem angemessenen Nähe-Distanz-Verhältnis geprägt ist. Eine zentrale Aufgabe ist die Krisenintervention, die den sicheren Umgang mit Suizidalität und die Deeskalation bei aggressivem Verhalten umfasst. Pflegefachpersonen können zudem kotherapeutisch mitwirken und psychoedukative Gruppen leiten, um das Krankheitsverständnis und die Gesundheitskompetenz der Patient:innen zu fördern. Die Begleitung zielt auf eine nachhaltige Entlassung ab, wozu eine sorgfältige Nachsorgeplanung und die Einbeziehung des sozialen Umfelds gehören. Alle Maßnahmen verfolgen das übergeordnete Ziel, die Ressourcen der Patient:innen zu aktivieren, ihre Selbstständigkeit zu stärken und sie auf ihrem individuellen Genesungsweg zu begleiten.
Allgemeine Pflege bei psychiatrischen Erkrankungen
Beobachten/Überwachen
- Allgemein: Hoher Stellenwert für therapeutischen Prozess
- Vitalzeichen: Regelmäßig kontrollieren
- Schwerpunkte der Beobachtung
- Psychischer Befund (Erleben und Verhalten)
- Suizidalität
- Selbst- und/oder Fremdgefährdung
- Vigilanz und Schlaf
- Somatische Veränderungen
- Medikamentennebenwirkungen
- Risikoscreenings: Regelmäßig durchführen [1]
Bei V.a. akute Suizidalität sofort ärztliches Personal informieren!
Medikamentöse Therapie
- Sicherheitsmanagement bei der Verabreichung
- I.d.R. kontrollierte Abgabe unter Aufsicht
- Auf Horten von Medikamenten achten
- Beobachtung: Wirkung und Nebenwirkungen wahrnehmen
- Management von Abhängigkeitsrisiken: Abhängigkeitspotenzial bestimmter Medikamente kennen und beachten
- Laborkontrollen: Bei Bestimmung des Medikamentenspiegels mitwirken
Unterstützung bei der Alltagsbewältigung
- Tagesstrukturierung und Milieugestaltung
- Klare und verlässliche Struktur geben
- Zu einem regelmäßigen Schlaf-Wach-Rhythmus anregen
- Zu regelmäßigen Mahlzeiten motivieren
- Wochenpläne zur zeitlichen Orientierung nutzen
- Teilnahme am Tagesgeschehen auf Station fördern
- Station therapiefreundlich gestalten
- Unterstützung bei der Umsetzung therapeutischer Ziele
- Therapieadhärenz fördern
- Im therapeutischen Prozess begleiten
- Aktivierung und Motivation
- Lebenspraktisches Training
- Beschäftigungs- und Arbeitstherapie
- Freizeitgestaltung
- Komplementäre Interventionen [1]
- Mobilisation und Bewegung
- Teilnahme an Sport- und Bewegungstherapien fördern
- Wirkt körperlichen Beschwerden entgegen
- Fördert Selbstvertrauen und Körperwahrnehmung
- Hilft beim Abbau von Anspannung und Stress
- Fördert bei Gruppenaktivitäten die soziale Kompetenz
- Ernährung und Körperpflege
- Bei Selbstversorgung unterstützen
- Bei Körperpflege assistieren und anleiten
- Auf ausgewogene Ernährung achten
Professionelle Beziehungsgestaltung und Angehörigenarbeit
Professionelle Beziehungsgestaltung
- Allgemein: Zentraler Aspekt und Grundlage der psychiatrischen Pflege
- Zeitlicher Rahmen: Beginnt mit Aufnahme und endet mit Entlassung der zu pflegenden Person
- Ziele der Beziehungsgestaltung
- Sicherheit und Vertrauen schaffen
- Aktive Mitarbeit (Adhärenz) anregen
- Ressourcen, Gesundheit und Inklusion fördern [1]
- Grundlagen der professionellen Haltung
- Wertschätzung und Akzeptanz
- Authentizität
- Angemessenes Nähe-Distanz-Verhältnis
- Vorbildfunktion
- Reflexion
- Bewusste Präsenz [1]
- Emotionale Unterstützung [1]
- Umsetzung im Pflegealltag
- Gesprächsführung
- Günstige Rahmenbedingungen schaffen
- Aktives Zuhören anwenden
- Zur Selbsthilfe anleiten
- Konstruktiv und respektvoll kommunizieren
- Gegenseitige Erwartungen klären
- Bezugspflege: Patientenorientiertes Pflegeorganisationssystem
- Ziel: Vollumfängliche, kontinuierliche, individuelle Pflege
- Pflegefachperson ist ganzheitlich für die zugeordneten zu pflegenden Personen zuständig
- Entwickelt Pflegeplan (siehe auch: AMBOSS-Pflegewissen: Pflegeprozess und Pflegeplanung)
- Verantwortlich für die Umsetzung des Pflegeplans von Aufnahme bis zur Entlassung
- Bei Abwesenheit soll sich die Vertretung an den Pflegeplan der Bezugspflege halten
- Gesprächsführung
Die professionelle Beziehung zu den Patient:innen sollte einen klaren Anfang und ein klares Ende haben!
Psychoedukation und Beratung
- Rolle der Pflege: Begleitung oder eigenständige Übernahme psychoedukativer Gruppen
- Inhalte: Bspw.
- Aufklärung über Krankheitsbild und Symptome
- Soziales Kompetenztraining
- Skillstraining
- Setting: Häufig als Gruppensitzung
- Ziel: Förderung von Gesundheitskompetenz und -verhalten, insb. [1]
- Schlaf
- Ernährung
- Stress
- Suchtmittel
- Copingstrategien
Angehörigenarbeit
- Angehörige
- Häufig stark belastet
- Wichtige Bündnispartner:innen
- Aufgaben der Pflege
- Angehörige in die Behandlung einbeziehen
- Informationen und Beratung anbieten
- Wertschätzung zeigen und emotional entlasten
- Auf Angehörigengruppen und Unterstützungsangebote hinweisen
- Zugehörige
- Auf Wunsch miteinbeziehen
- Rechtliche Grenzen beachten, siehe auch: Schweigepflichtsentbindung
Angehörige sollten auf spezielle Angehörigengruppen und weitere Unterstützungsangebote hingewiesen werden!
Krisenintervention und Sicherheit
Suizidalität
- Grundprinzip: Jeden Suizidgedanken und jede suizidale Äußerung ernst nehmen und umgehend reagieren!
- Risikoassessment
- Risikogruppen erkennen, siehe auch: Hauptrisikofaktoren für Suizidalität
- Ggf. erhöhte Risikogefährdung bei Behandlungsbeginn mit Antidepressiva beachten
- Pflegerische Interventionen
- Kommunikation
- Thema direkt und ohne Vorwürfe ansprechen
- Nach den Hintergründen der Gedanken fragen
- Sicherheitsmaßnahmen
- Gefährliche Gegenstände entfernen
- Engmaschige Begleitung und Überwachung sicherstellen
- Bei zugrundeliegenden psychotischen Symptomen für reizarme Umgebung sorgen
- Kommunikation
- Teamarbeit: Anhaltspunkte auf akute Suizidalität umgehend an das ärztliche Personal und das gesamte Team weitergeben
- Siehe auch: AMBOSS-Pflegewissen: Suizidalität
Deeskalationsmanagement bei aggressivem Verhalten
- Formen der Aggression
- Verbal
- Nonverbal
- Körperlich
- Autoaggression
- Frühe Anzeichen: Bspw.
- Verkniffene Mimik
- Körperliche Anspannung
- Gereizte Antworten
- Getriebenes Umherlaufen
- Deeskalatives Auftreten: Bspw.
- Sicherheit für alle Beteiligten schaffen
- Ruhig und selbstsicher auftreten
- Problemlösungsstrategien erarbeiten
- Siehe auch: Vorgehen bei fremdaggressivem Verhalten - AMBOSS-SOP
- Implementierung systemischer Deeskalationsstrategien: Bspw. Six-Core-Strategien [2]
- Dokumentation: Aggressives Verhalten präzise beschreiben
Freiheitsbeschränkende und -entziehende Maßnahmen
- Grundprinzip: Anwendung nur in Notsituationen!
- Arten der Maßnahmen, bspw.
- Festhalten
- Mechanische Fixierung
- Räumliche Trennung
- Sedierende Medikamente
- Siehe auch: Besondere Sicherungsmaßnahmen
- Rechtliche Grundlagen, siehe auch: Besondere Sicherungsmaßnahmen nach öffentlich-rechtlichen Landesgesetzen
- Pflegerische Durchführung
- Vorbereitung: Sicherheitscheck bei Patient:in
- Bei Fixierung
- Lückenlose Überwachung sicherstellen
- Thromboseprophylaxe bei längerer Dauer (i.d.R. ab 8 h)
- Nachsorge
- Betroffenen ein Gespräch über das Vorgehen und die Erlebnisse anbieten
- Nachbesprechung im Team durchführen
Bei längerer Dauer einer Fixierung, i.d.R. ab ca. 8 h, muss eine Thromboseprophylaxe sichergestellt werden!
Mitwirkung bei Therapie und Prävention
Pflegerische Rolle in der Psychotherapie
- Allgemein: Unterstützende und kotherapeutische Rolle im psychotherapeutischen Prozess
- Aufgaben der Pflege
- Strukturierte, ggf. manualisierte psychotherapeutische Trainings durchführen [1]
- Therapiebezogene Interventionen umsetzen
- Psychoedukation begleiten oder übernehmen
- Therapeutisches Milieu schaffen
Entlassungsmanagement und Rückfallprävention
- Ziele
- Nahtlosen Übergang in ambulantes Setting oder andere Einrichtung sicherstellen
- Krisen vorbeugen
- Vorbereitung der Entlassung
- Sorgfältige und frühzeitige Planung
- Thematisierung von Ängsten der Patient:innen
- Betroffene zu Terminen außerhalb der Station begleiten [1]
- Vorbereitung auf Belastungssituationen im häuslichen Umfeld [1]
- Organisation der Nachsorge
- Ggf. passendes Betreuungssetting finden
- Ggf. Kontakte zu ambulanten Diensten herstellen
- Medikamenteneinnahme sicherstellen
- Angehörige einbeziehen
- Sicherheitsaspekte: Ggf. erhöhte Suizidgefahr im Zeitraum der Entlassung beachten und ansprechen