Zusammenfassung
Die Vulvodynie ist eine chronische Schmerzerkrankung der Vulva und insb. des Vestibulum vaginae (dann als Vestibulodynie bezeichnet), die über mind. 3 Monate besteht. Die Symptome umfassen in den meisten Fällen brennende, stechende Schmerzen, Juckreiz und ein Wundgefühl am äußeren Genitale spontan oder nach Berührung.
Die genaue Ursache ist ungeklärt, es wird jedoch eine multifaktorielle Genese vermutet, wobei sowohl psychosoziale als auch organische Faktoren eine Rolle spielen. Bei den meisten Betroffenen liegt eine Vielzahl psychischer Symptome vor (wie z.B. Schlafstörungen oder Depressionen). Auch häufige Anwendungen von Antimykotika oder Antibiotika werden als Auslöser diskutiert.
Oftmals vergehen Jahre zwischen den ersten Symptomen und einer korrekten Diagnosestellung, wobei die Betroffenen unter einem erheblichen Leidensdruck stehen. Die Therapie ist langwierig und umfasst u.a. verhaltenstherapeutische Maßnahmen, Entspannungstechniken und lokale/systemische Medikamente wie bspw. trizyklische Antidepressiva oder SSRIs.
Definition
Chronische (somatoforme) Schmerzstörung der Vulva, die über mind. 3 Monate besteht und der sowohl physische als auch psychische Prozesse zugrunde liegen [1][2][3]
- Nach Lokalisation
- Vulvodynie (generalisiert): Schmerzen können gesamte Vulva betreffen
- Vestibulodynie (lokalisiert): Schmerzen im Bereich des Vestibulum vaginae
- Nach Zeitpunkt
- Auslöser
- Provoziert: Durch Berührung (sexuell/nicht-sexuell)
- Spontan
- Gemischt: Provoziert und spontan
Epidemiologie
Es wird eine sehr hohe Dunkelziffer vermutet. Aufgrund verschiedener Beobachtungsstudien kann die Epidemiologie nur geschätzt werden.
- Lebenszeitprävalenz: Geschätzt 5–10% aller Frauen [2][4]
- <30 Jahre: 80–90% der Fälle sekundäre, provozierte Vestibulodynie
- 40–50 Jahre: 30% der Fälle spontane Vulvodynie und Vestibulodynie
- Siehe hierzu auch: Klassifikation der Vulvodynie
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie und Pathophysiologie
Die genaue Ursache der Vulvodynie ist (noch) nicht abschließend geklärt. Es wird eine multifaktorielle Genese vermutet, wobei sowohl psychosoziale als auch organische Faktoren eine Rolle spielen. Oftmals besteht anfänglich eine Infektion mit Candida albicans, die mehrfach und frustran mittels Antimykotika behandelt wird. Bei vielen Betroffenen liegen psychische Symptome vor (z.B. Schlafstörungen, Depressionen), wobei nicht geklärt ist, ob diese ursächlich oder primär als Komorbidität vorliegen. Viele der nachfolgend aufgeführten Faktoren treffen auf einen Großteil der Patientinnen zu. [2]
- Psychisch
- Psychosoziale Belastungen, emotionale Konflikte
- Chronischer Stress und/oder Trauma in der Kindheit
- Organisch
- Störungen des nozizeptiven Systems von Vestibulum vaginae und Harnblase
- Verstärkung neurotoxischer Prozesse (bspw. Aktivierung von IL1β, IL6, TNF-α, CRP) durch Zytokine [5]
- Polymorphismen mit resultierender verstärkter Entzündungsreaktion
- Gesteigerte Aktivität der (Beckenboden‑)Muskulatur (insb. M. levator ani) [4]
- Tonuserhöhung → Entzündliche Reaktion → Durchblutungsstörungen → Gestörte neuronale Muster → Muskelverkürzung/Beweglichkeitseinschränkung → Schmerzen → Tonuserhöhung (Teufelskreis) [6]
- Störungen der Vaginalflora möglich [7]
- Insb. bei lokaler Vulvodynie (Vestibulodynie), u.a.
- Entzündlich
-
Candida albicans als Triggerfaktor [2]
- Starke Überexpression eines C.-albicans-bindenden speziellen Rezeptors auf vulvärem Oberflächenepithel (Dectin-1-Rezeptor) → Ausschüttung von insb. Interleukin-6 (auch bei geringer Candida-Besiedelung) → Schmerzempfinden↑
- Hyperplasie von (sympathischen) Nervenfasern in der Lamina propria mit stellenweiser Einsprossung in die Vulvahaut → Schmerzempfinden↑
- Erhöhte Anzahl an Mastzellen im vulvären Gewebe möglich → Vermehrte Degranulation und Heparanase-Aktivität [2]
- Lymphatische Immunreaktion [2]
-
Candida albicans als Triggerfaktor [2]
- Neuronal
- Vermehrte Innervation des Oberflächenepithels
- Nervenhypertrophie und -hyperplasie im Bereich des Vestibulum vaginae
- Erhöhte zentralnervöse Sensibilität möglich
- Weitere mögliche Faktoren
- Erhöhte Progesteronrezeptordichte
- Fraglich: (Lange) Einnahme von KOK, insb. mit hoher androgener Wirkung
- Entzündlich
Klassifikation
Klassifikation der Vulvodynie von 2015 nach SSV , ISSWSH und IPPS [2][8]
Klassifikation von Vulvaschmerzen und Vulvodynie nach ISSV, ISSWSH und IPPS von 2015 [2][8] | |
---|---|
A: Vulvaschmerzen aufgrund einer spezifischen Erkrankung | |
1. | Infektion |
2. | Inflammation |
3. | Neoplasie |
4. | Neurologisch |
B: Vulvodynie | |
1. Generalisiert | |
1.1 Provoziert | |
1.2 Nicht-provoziert (spontan) | |
1.3 Gemischt | |
2. Lokalisiert (Vestibulodynie, Klitorodynie, Hemivulvodynie) | |
2.1 Provoziert | |
2.2 Spontan | |
2.3 Gemischt |
Symptomatik
Lokale Symptome [2][4]
Die Auswirkungen auf die Lebensqualität der Betroffenen (inkl. psychische Stabilität, Partnerschaft etc.) sind oftmals gravierend! Die Symptome beginnen häufig nach einer vaginalen Infektion oder einer Urozystitis mit erfolgter antimykotischer/antibakterieller Therapie. [1][9]
- Variable Symptome im Bereich der Vulva
- Brennen
- Stechen
- Wundgefühl
- Juckreiz
- Trockenheitsgefühl
- Spontan auftretende Schmerzen oder bei/nach Berührung
- Dyspareunie
- Keine oder intermittierend auftretende Hautrötung und Schwellung (Inflammation, keine Infektion!)
- Lokalisation der Symptome
- Bei Vulvodynie (meist Brennen oder Juckreiz)
- Insb. Sulcus interlabialis
- Äußere Labien (meist hinterer Teil)
- Damm
- Anus
- Klitoris (meist stechend)
- Hemivulvodynie (sehr selten!)
- Bei Vestibulodynie (meist brennend mit Missempfindungen)
- U-förmig um den Hymenalsaum bis zur Urethramündung
- Laterale Grenze: Übergang des nicht-verhornenden Plattenepithels des Vestibulum vaginae in das verhornende Plattenepithel der inneren kleinen Labien (Hart-Linie)
- Bei Vulvodynie (meist Brennen oder Juckreiz)
- Zeitlicher Verlauf der Schmerzen
- Permanent, intermittierend oder periodisch (dann insb. prämenstruell)
- Auftreten plötzlich oder mit langsamer Progredienz
- Meist abends stärker als morgens
Häufige psychische Symptome [2][10]
- Einschlaf- und Durchschlafstörungen
- Grübeln
- Angststörungen
- Panikattacken
- Depressive Stimmungen, Depressionen
- Burn-out-Syndrom
- PTSD
Komorbiditäten [2]
- Kraniomandibuläre Dysfunktion (bspw. Bruxismus), sehr häufig!
- Reizblase („overactive bladder“)
- Interstitielle Zystitis
- Bladder Pain Syndrome
- Reizdarm (insb. mit stressbedingten abdominellen Schmerzen und Diarrhö)
- Fibromyalgie-Syndrom
- Migräne
- Endometriose
Diagnostik
Von den ersten Symptomen bis zur Diagnosestellung vergehen meist mehrere Jahre. Oft stellen sich die Patientinnen bei bis zu 10 verschiedenen Ärzt:innen vor (bspw. Dermatologie, Gynäkologie, Urologie, Proktologie).
Im Mittelpunkt der Diagnostik steht eine ausführliche und einfühlsame(!) Anamnese ohne zeitlichen Druck. Die betroffene Frau soll sich verstanden und ernstgenommen fühlen, weshalb behandelnde Gynäkolog:innen ausreichend Erfahrung (und Kenntnis, bspw. der Vulvadermatosen), Verständnis, Empathie haben und sich Zeit (30–90 Minuten) nehmen sollten, um die Diagnose zu stellen. [2][4]
- Ausführliche Anamnese/Exploration
- Allgemeine Anamnese
- Psychosoziale Anamnese (mit Frage nach psychotherapeutischen Behandlungen)
- Gynäkologische Anamnese
- Medikamentenanamnese (insb. Antibiotika, Antimykotika und Psychopharmaka)
- Sexualanamnese, inkl. Fragen nach sexueller Erfüllung und Partnerschaft
- Schmerzanamnese
- Gynäkologische Untersuchung
- Inspektion
- Vaginales Nativpräparat und pH-Messung zum Ausschluss gynäkologischer Infektionen
- Wattestäbchentest zur Beurteilung der Schmerzausdehnung
- Ggf. vaginale Pilzkultur [4]
- I.d.R. nicht notwendig
- Bildgebung
- Histopathologische Untersuchung
- Bakteriologische Untersuchungen [2]
- Kontraindiziert: Emla-Test [4]
- Ggf. urologische, internistische oder dermatologische Mitbeurteilung
Die Diagnosestellung erfolgt anhand des klinischen Bildes.
Zum Ausschluss von Infektionen sollten keine Pilzkulturen der Vulva durchgeführt werden, ggf. jedoch aus der Vagina! [4]
Differenzialdiagnosen
Folgende Differenzialdiagnosen sollten ausgeschlossen werden:
- Infektiös, u.a.
- Inflammatorisch, u.a.
- Neoplastisch, u.a.
- Neurologisch, u.a.
- Spinalkompression
- Neuralgien bei bspw. Herpes genitalis oder Pudendusneuralgie [4]
- Organische Dyspareunie
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Die Therapie ist langwierig und sollte multimodal erfolgen (u.a. mit Physiotherapie, Psychotherapie, Schmerztherapie und Osteopathie)! Ein wichtiger Grundsatz der Therapie ist es, der Patientin Zuversicht zu vermitteln, dass die Erkrankung behandelt werden kann. [2]
Erstmaßnahmen
- Erkrankungsbild erklären → Betroffene sollen die Vulvodynie als körperliche Krankheit annehmen [1][2]
- Absetzen aller lokal angewendeten Antimykotika/Antibiotika
- Bei chronisch-rezidivierender Vulvovaginalcandidose: Systemische Therapie [11]
- Verhaltensstrategien [12]
- Vulva ausschließlich mit Wasser waschen
- Behutsames Trockentupfen
- Ggf. milde Pflegecreme verwenden
- Baumwollunterwäsche und locker sitzende Hosen tragen
- Vulva sanft mit Wasser abspülen (nach Wasserlassen und Geschlechtsverkehr)
- Entspannungsübungen in den Alltag integrieren (inkl. Dehnübungen für den Beckenboden)
Durch die Diagnosestellung verspüren viele Frauen nach mehrjährigem „Ärzt:innen-Marathon“ eine Erleichterung, die für die weitere Therapie und Heilungsaussicht förderlich ist! [12]
Der Patientin sollen Verständnis, Zuversicht und Hoffnung vermittelt werden!
Multimodale Therapie bei Vulvodynie [2][13]
Die multimodale Therapie besteht aus 3 Grundpfeilern zur Schmerzreduktion. Da sich die Beschwerden sehr individuell verhalten, müssen meist verschiedene Dinge ausprobiert werden. Für viele nachfolgende Therapiemöglichkeiten gibt es wenig Evidenz (es existieren wenig randomisiert-kontrollierte Studien). Bei ca 20% der Fälle sistiert die Vulvodynie spontan wieder. [14]
Steigerung des emotionalen Wohlbefindens
- Stressreduktion
- Bei Ein- und Durchschlafstörungen: Schlaf verbessern (siehe: Therapie bei Insomnie)
- Sport (bspw. Yoga)
- Entspannung (bspw. autogenes Training, Meditation)
Psychotherapie
- Insb. Verhaltenstherapie
- Sexualtherapie [2][10]
Entspannung der Beckenbodenmuskulatur
- Physiotherapie mit [6]
- Aktiver Beckenbodenentspannung
- Triggerpunktmassage
- Bindegewebelockerung
- Dehnung der Beckenbodenmuskulatur
- Biofeedback-Training
- Ggf. Osteopathie
- Ggf. Botox-Injektion (Off-Label Use) [14]
- Ggf. Neuraltherapie, bspw. Pudendusblockade (insb. bei Vestibulodynie) [13][14]
- Ggf. Transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) [14]
- Ggf. Akupunktur [14]
Medikamentös (in Studien untersucht, jedoch Off-Label Use) [2][6][14]
- Topisch
- Amitriptylin-, Baclofen- oder Gabapentin-Creme
- Östrogenhaltige Creme
- Lidocain-Gel (2–5%) (mit/ohne Cortison oder mit/ohne Testosteron)
- Capsaicin-Creme mit vorheriger Applikation von Lidocain-Gel
- Bisher kein Studienergebnis: Baclofen mit endogenem Autakoid/Cannabinoid (Palmitoylethanolamid)
- Kutanes Fibroblasten-Lysat (Zytokinwirkung)
- Systemisch (oral)
- Antidepressiva (bspw. SSRI (Citalopram) , trizyklische Antidepressiva, insb. Amitriptylin ) [10]
- Anfallssuppressiva [14]
- Antihistaminika, bspw. Cetirizin (zur Senkung der Mastzellfunktion)
- (Umstellung der) KOK mit höherem Ethinylestradiolanteil >20 μg
Operative Therapie (Ultima Ratio!) [6][14]
Die meisten Studien wurden retrospektiv mittels Patientinnenbefragung ausgewertet und betrafen v.a. Frauen mit Vestibulodynie. Eine operative Therapie sollte nur dann durchgeführt werden, wenn die konservative Therapie versagt.
- Vestibulektomie (oder Vestibuloplastik) bei erfahrenen Operateur:innen
- Gute Wirksamkeit laut zahlreichen Patientinnenbefragungen
- Spätkomplikationen: Bartholin-Abszess, Vernarbung, Rezidiv
- Schwenklappenplastik: Neues, noch nicht im Rahmen einer Vulvodynie publiziertes Verfahren
- Lasertherapie: Bisher nicht empfehlenswert, jedoch zu wenig Daten für eine abschließende Aussage
Weitere Methoden (Therapieversuch) [6][12]
- Ernährung: Ggf. Lebensmittel wie Käse, Rotwein, Kaffee (histaminhaltig, gefäßerweiternd) meiden, oxalathaltige Lebensmittel meiden
- Akupunktur
- Hypnose
AMBOSS-Podcast zum Thema
CME-Kurs Vulvodynie (Juli 2023)
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