Zusammenfassung
Die Sichelzellkrankheit ist eine autosomal-rezessiv bzw. autosomal-kodominant übertragene hämolytische korpuskuläre Anämie, die vor allem in Afrika und im östlichen Mittelmeerraum gehäuft vorkommt (wahrscheinlich aufgrund eines Selektionsvorteils gegenüber Malaria). Humangenetisches Korrelat ist eine Punktmutation (Glutamat → Valin), die zu veränderten Hämoglobinmolekülen führt. Unter Sauerstoffmangel verändern die Erythrozyten dadurch ihre Form und gehen in die charakteristischen Sichelzellen über. Neben den hämolytischen Krisen spielen vor allem die dadurch entstehenden Gefäßverschlüsse klinisch eine wichtige Rolle. Es kommt zu Infarkten in Milz, Niere, ZNS, Knochen und vielen weiteren Organen. Als kausale Therapie steht nur die allogene Stammzelltransplantation zur Verfügung, die vereinzelt bei homozygoten Trägern angewendet wird.
Epidemiologie
- Vorkommen: Weltweit; häufigste korpuskuläre Anämieform [1]
- Inzidenz
- Deutschland: 100–150 Neugeborene pro Jahr
- Weltweit: 300.000–400.000 Neugeborene pro Jahr
- Prävalenz in Deutschland: 1/20.000 Neugeborene
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Autosomal-rezessiver bzw. autosomal-kodominanter Erbgang
Pathophysiologie
- Punktmutation (Glutamat → Valin) führt zu defekten β-Ketten des Hämoglobins, wodurch veränderte Hämoglobinmoleküle (HbS) entstehen und das physiologische Haupthämoglobin A (HbA) ersetzen [1]
- Intrazelluläre HbS-Polymere → Veränderung von Form und Flexibilität sowie verkürzte Halbwertszeit der Erythrozyten → Rezidivierende Mikroinfarkte
- Gefäßverschlüsse begünstigt durch chronische Hämolyse → Chronische Aktivierung der Gerinnung → Vasokonstriktion durch Stickstoffmonoxiddepletion → Hochregulation von Adhäsionsmolekülen → Erhöhte Zell-Zell-Interaktion → Chronische Umbauvorgänge in der Gefäßwand (sog. „vascular remodeling“) → Verschluss großer Gefäße (bspw. A. cerebri media, A. carotis interna)
- Heterozygote Träger: Strukturänderung der HbS-Hämoglobinmoleküle nur unter starkem Sauerstoffmangel → Sichelform der Erythrozyten
-
Homozygote Träger: Bis zu 100% der Hämoglobinmoleküle verändert; Strukturänderung bereits unter minimalen Sauerstoffveränderungen
- Reaktiv wird fetales Hämoglobin gebildet (HbF) → Hämoglobinmoleküle bestehen zu 20% aus HbF und zu 80% aus HbS
- Sichelzellen sind unelastisch und führen über Mikrozirkulationsstörungen zu Organinfarkten → Hämolyse der Erythrozyten in den Kapillaren und der Milz
Symptomatik
Homozygote Träger
Bereits im Kindesalter kommt es zu hämolytischen Krisen und durch die Mikrozirkulationsstörungen zu Organinfarkten.
- Bei geringem Sauerstoffmangel: Hämolytische Krise
- Organinfarkte bereits im Kindesalter (→ siehe Komplikationen)
Heterozygote Träger („Überträgerstatus“)
- Meist asymptomatisch
- Symptome bzw. Komplikationen können aber in Einzelfällen bei extremen körperlichen Ausnahmesituationen auftreten
Diagnostik
- Sichelzelltest: Nachweis von Sichelzellen im Blutausstrich unter Luftabschluss
- Hämoglobinelektrophorese oder HPLC : Nachweis der veränderten Hämoglobinmoleküle
- Blutausstrich
- Sichelzellen (Drepanozyten): Erythrozyten, die unter Sauerstoffmangel in eine dysmorphe sichelförmige Form übergehen
- Schießscheibenzellen (Target-cells): Erythrozyten mit deutlicher zentraler Rotfärbung
- Polychromasie
- Differenzialdiagnosen: Andere hämolytische Anämien
Therapie
- Symptomatisch
- Medikamentös: Hydroxycarbamid [2]
- Vermeidung von Sauerstoffmangelzuständen
- Adäquate Therapie bei hämolytischen Krisen: Intensivmedizinische Betreuung, Flüssigkeits- und Transfusionstherapie, Analgesie
- Kausal: Allogene Stammzelltransplantation bei homozygoten Betroffenen
Komplikationen
- Insb. bei homozygoten Trägern: Risiko von disseminierten Gefäßverschlüssen mit potenziell lebensbedrohlichen Organinfarkten (durch Sichelzellform der Erythrozyten) mit akut extremen Schmerzen, im Verlauf meist Multiorganschädigung
- Bei heterozygoten Trägern: Meist asymptomatisch; Komplikationen selten
- Mögliche Organschäden
- Lunge: Akutes Thoraxsyndrom [3]
- Milz: Funktionelle Asplenie durch multiple Milzinfarkte
- Niere: Chronische Nierenerkrankung (sog. Sichelzellnephropathie) [3][4]
- Knochen: Aseptische Nekrosen
- ZNS: Ischämischer Schlaganfall (häufig stumm)
- Knochenmark: Insuffizienz → Panzytopenie
- Sonderfall: Aplastische Krise nach Parvovirus-B19-Infektion (Ringelröteln)
Aufgrund der multiplen Infarkte ist die Milz bei der Sichelzellanämie häufig nicht vergrößert, sondern verkleinert!
Es werden die wichtigsten Komplikationen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Selektionsvorteil in Malariaendemiegebieten
- Träger des Sichelzellanämie-Allels erkranken seltener an Malaria
- Plasmodien können sich in den Erythrozyten nicht ausreichend vermehren, um eine Malariaerkrankung zu verursachen
- Genaue Mechanismen sind nicht bekannt
Prävention
Sekundärprävention [1]
- Möglichst frühe Diagnosestellung: Teil des Neugeborenenscreenings [2]
- Adäquate Infektionsprophylaxe
- Penicillinprophylaxe
- Regelmäßige Impfungen
- Beratung von Eltern und Patienten
- Sofortige Arztvorstellung bei Fieber
- Symptome der akuten Anämie erkennen können, da durch Milzsequestrationen oder im Rahmen transienter aplastischer Krisen bei Virusinfektionen (meist Parvovirus B19) zu lebensbedrohlichen Hämoglobinkonzentrationsabfällen kommt
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Anämie Grundlagen: Pathologie und Diagnostik
Hämolytische Anämie
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Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- D57.-: Sichelzellenkrankheiten
- Exklusive: Sonstige Hämoglobinopathien (D58.‑)
- D57.0: Sichelzellenanämie mit Krisen
- Hb-SS-Krankheit mit Krisen
- D57.1: Sichelzellenanämie ohne Krisen
-
Sichelzellen:
- Anämie
- Krankheit
- Störung
-
Sichelzellen:
- D57.2: Doppelt heterozygote Sichelzellenkrankheiten
- Krankheit:
- Sichelzell(en)-Beta-Thalassämie
- D57.3: Sichelzellen-Erbanlage
- Hb-S-Erbanlage
- Heterozygotes Hämoglobin S
- D57.8: Sonstige Sichelzellenkrankheiten
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.