Abstract
In diesem Kapitel werden die seltenen hereditären Stoffwechselerkrankungen abgehandelt. Sie umfassen verschiedene Störungen des Intermediärstoffwechsels, die durch vererbte Enzymdefekte verursacht werden, welche die Verstoffwechselung selbst sowie den Transport der Substrate oder Produkte betreffen können. Eine kurative Therapie ist nicht möglich, für einige wenige dieser Erkrankungen gibt es aber heutzutage symptomatische Therapien, sodass die Lebenserwartung in diesen Fällen etwas günstiger ausfällt.
α1-Antitrypsin-Mangel (AAT-Mangel)
- Vererbungsmodus: Autosomal-rezessiv
- Homozygote (schwere) Form (<0,2% der Bevölkerung)
- Heterozygote (leichte) Form (≤4% der europäischen Bevölkerung)
- Pathophysiologie
- α1-Antitrypsin (AAT) ist ein hepatisch synthetisierter Protease-Inhibitor
- Bei Erkrankung an α1-Antitrypsin-Mangel liegt in den meisten Fällen eine Genmutation vor, die zu einer Konformationsänderung und gestörten Sekretion von α1-Antitrypsin aus den Hepatozyten führt (es gibt auch eine Form des α1-Antitrypsin-Mangels, bei der überhaupt kein α1-Antitrypsin synthetisiert wird)
- Folgen für die Leber: Gestörte Sekretion aus den Hepatozyten → Intrazelluläre Akkumulation → Hepatitis und Leberzirrhose
- PAS-positive, kugelige Einschlüsse in periportalen Hepatozyten
- Folgen für die Lunge: Mangel an α1-Antitrypsin im Plasma → Gesteigerte Proteaseaktivität in der Lunge und Zerstörung der Lungenarchitektur → Lungenemphysem
- Symptome
- Schwere Form zeigt früh hepatische Manifestation → Prolongierter Ikterus neonatorum, Hepatitis und Leberzirrhose (bereits im Kindesalter möglich), Lungenemphysem meist erst im Verlauf
- Leichte Form zeigt v.a. pulmonale Manifestation im jungen Erwachsenenalter, auch hepatische Beteiligung möglich
- Diagnostik: Elektrophorese (erniedrigte α1-Zacke), Antitrypsin-Spiegel, Leberbiopsie
- Therapie: Antitrypsin-Substitution, symptomatisch, ggf. Lebertransplantation (beseitigt AAT-Mangel!)
COPD-Patienten unter 50 Jahren sollten auf einen α1-Antitrypsinmangel untersucht werden!
Mitochondriale Myopathien
Allgemein [1][2]
- Pathophysiologie
- Enzymminderung, die zu einer gestörten Energiegewinnung in der Atmungskette in den Mitochondrien führt
- Macht sich v.a. in Organen mit hohem Energieverbrauch (Gehirn, Skelettmuskulatur) bemerkbar
- Vererbung: Überwiegend maternal
- Klinisches Bild: Myopathien bei Belastung und muskuläre Schwäche
- Diagnostik
- Labor: Erhöhung des Serumlaktats
- Skelettmuskelbiopsie: Ggf. Nachweis von Ragged-red-Fasern
- Molekulargenetische Testung: Detektion bestimmter mtDNA- oder nukleärer Mutationen
Spezielle Formen
Chronisch progrediente externe Ophthalmoplegie (CPEO)
- Ätiopathogenese: Störung der Atmungskette in der mitochondrialen Energiegewinnung → Störungen in Systemen mit hohem Energieverbrauch
- Klinik: Doppelbilder und Verschwommensehen durch progrediente Ophthalmoplegie
Kearns-Sayre-Syndrom (KSS) [3]
- Ätiopathogenese: Hereditäre Deletion in der mitochondrialen DNA → Störung der mitochondrialen Energiegewinnung
- Manifestationsalter: <20 Jahre
- Klinik
- Doppelbilder und Verschwommensehen durch externe Ophthalmoplegie
- Erschwertes Sehen bei Nacht oder in der Dämmerung, ggf. Blindheit, durch Retinopathia pigmentosa
- Stand- und Gangunsicherheit durch zerebelläre Ataxie oder Herzrasen/Herzstolpern bei Herzreizleitungsstörungen
MELAS-Syndrom
- Akronym: MELAS = Mitochondrial encephalomyopathy, lactic acidosis, stroke-like episodes
- Klinik
- Muskelschwäche
- Tonisch-klonische Anfälle
- Demenz
- Rezidivierende Schlaganfälle
MERRF-Syndrom [1][3]
- Akronym: MERRF = Myoclonic Epilepsy with Ragged-Red Fibers
- Ätiopathogenese: Punktmutation der mtDNA (in 80% der Fälle) → Zerstörung wesentlicher Proteine der oxidativen Phosphorylierung
- Manifestationsalter: In der Jugend
- Klinik
Stoffwechselstörungen von Aminosäuren
Alkaptonurie
- Ätiologie: Seltene, autosomal-rezessiv vererbte Tyrosinstoffwechselerkrankung
- Pathophysiologie/Klinik: Anreicherung des Metabolits Homogentisinsäure → Ablagerungen und ggf. Schädigung von
-
Knorpel, Sehnen, Haut, Sklera = Ochronose
- Klinisch bedeutsame Folgen sind insb. die Arthrose sowie degenerative Wirbelsäulenveränderungen
- Herzklappen (Verkalkungen)
- Niere (Nephrolithiasis)
-
Knorpel, Sehnen, Haut, Sklera = Ochronose
- Diagnostik: Zugabe einer Base zum Urin → Schwarzfärbung spricht für das Vorliegen der Erkrankung
Homocystinurie
- Einordnung: Gruppe von Erkrankungen, bei denen es zu erhöhten Werten der Aminosäure Homocystein in Blut und Urin kommt
- Folgen (der Schweregrad der Erkrankung variiert)
- Augen: Linsenluxation, Myopie
- Knochen: Überlange Röhrenknochen, Arachnodaktylie
- ZNS: Retardierung, Epilepsie
- Gefäßsystem: Thromboembolie, Arteriosklerose
- Diagnostik: Zugabe von Natriumnitroprussid zum Urin → Intensive Rotfärbung spricht für das Vorliegen der Erkrankung
Phenylketonurie (PKU)
- Erbgang: Autosomal-rezessiv
- Pathophysiologie: Defekt der Phenylalaninhydroxylase (PAH) in der Leber → Umwandlung von Phenylalanin in Tyrosin gestört → Kumulation von Phenylalanin (im ZNS, nicht in der Leber!) → Beeinträchtigung des Hirnwachstums sowie Ausscheidung (auch von Metaboliten) im Urin↑ ("Phenylketonurie")
- Klinik
- Ab dem 4.–6. Monat fällt beim Kind ein psychomotorischer Entwicklungsrückstand auf
- 50% zerebrale Krampfanfälle
- Mikrozephalie
- Oft helle Haare, Haut und Augenfarbe
- Hyperaktivität z.T. mit aggressivem und destruktivem Verhalten
- Fortgeschrittenes Stadium: Gesteigerte Muskeleigenreflexe
- Diagnostik/Prophylaxe
- Heute: Direkte Bestimmung von Phenylalanin im Rahmen des Neugeborenenscreenings aus Fersenblut am 2. Lebenstag
- Bei Nachweis einer Hyperphenylalaninämie: Oraler Tetrahydrobiopterin-Belastungstest
- Veraltet: Indirekte Phenylalaninmessung am 5. Lebenstag (Guthrie-Test)
- Heute: Direkte Bestimmung von Phenylalanin im Rahmen des Neugeborenenscreenings aus Fersenblut am 2. Lebenstag
- Therapie: Phenylalanin-arme Diät
Zystinose
- Definition: Zystin-Speicherkrankheit
- Verlauf: Unterschiedliches Erkrankungsalter und verschiedene Schweregrade: Infantile, juvenile und okuläre Form
- Epidemiologie: Am häufigsten ist die infantile Form (Beginn im 3. Lebensmonat), die zugleich am schwersten verläuft
- Klinik
- Gedeihstörung
- Debré-de-Toni-Fanconi-Syndrom
- Progrediente Niereninsuffizienz
- Weiterer Organbefall
- Charakteristisch: Nachweis von Zystinkristallen in der Kornea bei der Spaltlampenuntersuchung
Zystinurie
Informationen zur Zystinurie finden sich in dem Kapitel Urolithiasis
Störungen des Harnstoffzyklus
- Kurzbeschreibung: Störungen des Harnstoffzyklus führen zu einer insuffizienten Elimination von anfallendem Stickstoff bzw. Ammoniak
- Ätiologie: Autosomal-rezessive Vererbung (in seltenen Fällen X-chromosomal-rezessive Vererbung)
- Pathophysiologie
- Klinik : Je nach Ausprägung des Enzymdefekts treten die Symptome zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf
- Allgemein: Lethargie, Erbrechen, neurologische Symptome
- Neugeborene: Tachypnoe, Trinkschwäche, epileptische Anfälle und Koma
- Kleinkinder: Nahrungsverweigerung, Gedeihstörung, psychomotorische Retardierung
- Pubertät: Insb. neurologische Symptome (Kopfschmerzen, Enzephalopathie, Ataxie)
- Diagnostik
- Ammoniakbestimmung: Hyperammonämie (>150 μmol/L)
- BGA: Respiratorische Alkalose
- Bestimmung von Aminosäuren im Plasma zur weiteren Charakterisierung des Defekts
- Therapie
- Initial: Anabolisierung des Stoffwechsels (Glucose und gleichzeitige Insulinzufuhr) und Elimination von Ammoniak über Hämodialyse
- Langfristig: Medikamentöse Ammoniakeliminierung, Substitution essenzieller Aminosäuren, eiweißarme Diät
Stoffwechselstörung der Harnsäure
Lesch-Nyhan-Syndrom
- Ätiologie
- X-chromosomal-rezessive Vererbung
- Defekt der Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyl-Transferase
- Klinik
- Bis 6. Lebensmonat klinisch unauffällig
- Choreoathetotische Bewegungsstörungen
- Geistige Entwicklungsminderung mit Autoaggression
- Diagnostik
- Nachweis des Enzymdefekts
- Hyperurikämie (Störung des Purinstoffwechsels)
- Therapie
- Allopurinol (kausale Behandlung nicht möglich)
- Purinarme Diät
- Prognose: Unbehandelt in den ersten Lebensjahren tödlich (durch Hyperurikämie induzierte Organschäden → Nierenversagen)
Fettsäureoxidationsdefekte
Medium-Chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel (MCAD-Mangel)
- Inzidenz: Ca. 1/10.000 Geburten
- Pathophysiologie
- Defekt im Abbau von mittelkettigen Fettsäuren → Störung der Fettsäureoxidation
- Fett kann nicht als alternative Energiequelle bei Kohlenhydratmangel fungieren
- Symptome: Rezidivierende Hypoglykämien, Erbrechen, Lethargie
- Komplikationen
- Enzephalopathie
- Leberverfettung und Funktionsverlust der Leber
- Plötzlicher Tod
- Diagnostik
- Erfassung im Neugeborenen-Screening
- Labor: Hypoglykämie, Hypoketonurie/Hypoketonämie, Hyperurikämie, metabolische Azidose, Erhöhung von AST/ALT, Ammoniak↑, verlängerte PT/PTT
- Therapie
- I.v.-Gabe von 10%iger Glucoselösung
- Carnitingabe
- Vermeidung von Hungerzuständen
Mukopolysaccharidosen (MPS)
- Definition: Störungen im Abbau der Glykosaminoglykane
- Ätiologie: >10 bekannte Gendefekte; Vererbung: autosomal-rezessiv (Ausnahme ist die MPS Typ II, die X-chromosomal vererbt wird)
- Klinik
- Gesichtsdysmorphien (grobe Gesichtszüge), Gelenkkontrakturen, Wachstumsstörungen, Hepatosplenomegalie, Hornhauttrübungen, Hernien
- Typ I H (Hurler): Psychomotorische Retardierung, Dysostosis multiplex, Hornhauttrübung
- Diagnostik
- Klinik
- Röntgenaufnahme des Skeletts
- Urin: Suche nach sauren Mukopolysacchariden
- Therapie
- Enzymersatztherapie: L-Iduronidase
- Symptomatisch (orthopädische Versorgung, Hornhauttransplantation)
AMBOSS-Podcast zum Thema
Von Kolibris und Zebras: Seltene Erkrankungen (Februar/2022)
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