Abstract
Sowohl die Polymyalgia rheumatica (PMR) als auch die Riesenzellarteriitis (RZA, vor 2012 auch als Morbus Horton, Arteriitis temporalis oder Arteriitis cranialis bezeichnet) führen durch autoimmune Prozesse zu einer jeweils unterschiedlich lokalisierten Gefäßentzündung der mittelgroßen und großen Arterien. Durch die ähnliche Pathophysiologie werden sie zu einer Krankheitsentität zusammengefasst. Leitsymptom der Polymyalgia rheumatica sind heftigste symmetrische Schulterschmerzen, während die Riesenzellarteriitis durch Entzündungen der kraniellen Gefäße u.a. zu Sehstörungen mit vorübergehender Erblindung eines Auges (Amaurosis fugax) sowie zu pochenden Schläfenschmerzen führen kann. Ein gemeinsames Auftreten beider Erkrankungen ist möglich. Diagnostisch ist in beiden Fällen eine Sturzsenkung in den Laborwerten charakteristisch. Die schnell einzuleitende Therapie besteht jeweils in einer hochdosierten Glucocorticoidgabe, wodurch bei der Riesenzellarteriitis eine mögliche Erblindung verhindert werden kann.
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Definition
Riesenzellarteriitis und Polymyalgia rheumatica wurden früher als strikt separate Krankheitsbilder angesehen, mittlerweile fasst man sie jedoch aufgrund der großen pathophysiologischen Gemeinsamkeiten zunehmend zu einer Krankheitsentität zusammen.
- Gemeinsame Ursache: Vermutet wird eine Vaskulitis der großen Arterien mit Riesenzellbildung
- Riesenzellarteriitis (RZA, veraltete Synonyme: Arteriitis temporalis , Arteriitis cranialis, Morbus Horton)
- Entzündliche Beteiligung der kraniellen Gefäße → Typische Klinik mit u.a. temporalem Kopfschmerz und Visusverlust
- Polymyalgia rheumatica (PMR)
- Entzündung der A. subclavia mit Ausbreitung auf die angrenzenden Gelenke und Sehnenscheiden
- Vermutlich eine klinisch mildere Ausprägung der Riesenzellarteriitis, die bei ca. 50% der Riesenzellarteritiden auftritt
- Riesenzellarteriitis (RZA, veraltete Synonyme: Arteriitis temporalis , Arteriitis cranialis, Morbus Horton)
Epidemiologie
- Geschlecht: ♀ > ♂
- Alter: Inzidenz steigt mit zunehmendem Alter
- Die Polymyalgia rheumatica ist die zweithäufigste entzündlich-rheumatische Erkrankung im Alter
Es erkranken insb. ältere Frauen!
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Nicht vollständig geklärt, diskutiert werden:
- Genetische Prädisposition
- Äußere Faktoren (bspw. Parvovirus B19): Triggern die Auslösung einer Immunreaktion
- Aktivierung dendritischer Zellen → Chemokinausschüttung → Aktivierung von CD4+-T-Zellen → Rekrutierung von Lymphozyten und Makrophagen (Letztere fusionieren zu den namensgebenden und histologisch nachweisbaren „Riesenzellen“)
Symptome/Klinik
Allgemeinsymptome
- Gemeinsame Symptomatik bei Polymyalgia rheumatica und Riesenzellarteriitis, u.a.
- Depressive Verstimmung
- B-Symptomatik: Fieber, Gewichtsverlust und Nachtschweiß
- Abgeschlagenheit
Polymyalgia rheumatica – Spezifische Symptome
- Leitsymptome
-
Bilaterale, muskuläre Schmerzen (insb. nachts) , Bewegungseinschränkung und Morgensteifigkeit
- Schultergürtel und Oberarm: Häufig initial betroffen, unilateraler Beginn möglich
- Beckengürtel und Oberschenkel
-
Bilaterale, muskuläre Schmerzen (insb. nachts) , Bewegungseinschränkung und Morgensteifigkeit
- Weitere Symptome
- Nicht-erosive, asymmetrische Arthritis mittelgroßer Gelenke (z.B. Handgelenk, Sternoklavikulargelenk)
- Kniegelenkerguss
- Synovialitis des Handgelenkes: Häufig assoziiert mit Karpaltunnelsyndrom
Bei ca. 20% der Betroffenen besteht zusätzlich eine Riesenzellarteriitis!
Riesenzellarteriitis – Spezifische Symptome
- Leitsymptome: Je nachdem, welche Gefäße beteiligt sind, können die Symptome isoliert oder gemeinsam auftreten
- Entzündung der A. temporalis
- Pulssynchrone, bohrende, temporale Kopf-/Schläfenschmerzen
- Prominente, verhärtete und druckschmerzhafte A. temporalis superficialis
- Berührungsempfindlichkeit der umgebenden Haut
- Claudicatio masticatoria: Schmerzen beim Kauen (durch Ischämie der Kaumuskulatur)
- Entzündung der Augenarterien (A. ophthalmica, A. centralis retinae)
-
Visusstörungen, Augenmuskelbeteiligung
- Flimmerskotome, Gesichtsfeldausfälle
- Warnsignal: Amaurosis fugax → Drohende Erblindung (anteriore ischämische Optikusneuropathie)!
-
Visusstörungen, Augenmuskelbeteiligung
- Beteiligung weiterer Arterien möglich
- Befall der Äste des Aortenbogens
- Blutdruckdifferenz der Arme
- Koronaritis mit charakteristischer Symptomatik der Angina pectoris
- Komplikation: Aortenaneurysma und Aortendissektion
- Befall der Äste der A. carotis: Kopfschmerzen und zerebrale Durchblutungsstörungen
- Befall der Äste des Aortenbogens
- Entzündung der A. temporalis
Bei ca. 50% der Betroffenen besteht zusätzlich eine Polymyalgia rheumatica!
Diagnostik
Allgemein
- Labordiagnostik
- Evtl. Anämie
- Normwertige Kreatinkinase
- Keine Autoantikörper
- BSG↑↑ (Sturzsenkung) mit >50 mm in der ersten Stunde
- CRP↑
- Evtl. Leukozytose
Polymyalgia rheumatica – Spezifische Diagnostik
- Körperliche Untersuchung
- Schürzen- und Nackengriff häufig deutlich eingeschränkt
- Druckschmerzhafte Oberarme/Oberschenkel
- Schmerzbedingte Kraftlosigkeit (z.B. eingeschränktes Treppensteigen)
- Kein Ansprechen der Schmerzen auf Analgetika
ACR-EULAR-Klassifikationskriterien der Polymyalgia rheumatica von 2012 [1] | |
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Zusatzkriterien | Punkte |
| 2 |
| 2 |
| 1 |
| 1 |
Arthrosonografische Zusatzkriterien | |
1 | |
1 | |
Beurteilung: Diagnosestellung PMR bei ≥4 Punkten bei den Zusatzkriterien ODER ≥5 Punkten inkl. Arthrosonografie |
Riesenzellarteriitis – Spezifische Diagnostik
- ACR-Diagnosekriterien der Riesenzellarteriitis (von 1990): Die Diagnose kann gestellt werden, wenn ≥3 Kriterien erfüllt sind
- Alter >50 Jahre
- Neu aufgetretene oder neuartige Kopfschmerzen
- Abnorme A. temporalis (Druckschmerzhaftigkeit, verhärtet, abgeschwächter/fehlender Puls)
- Sturzsenkung mit BSG >50 mm in der ersten Stunde
- Histologisch (Biopsie): Vaskulitis durch mononukleäre Zellinfiltration oder granulomatöse Gefäßentzündung meist mit Nachweis von Riesenzellen
- Bildgebung
-
Duplexsonografie der Aa. temporales sowie axillares (diagnostisch der Biopsie vorzuziehen) [2]
- Halozeichen
- Sanduhrförmiger Verlauf der Temporalarterie
- Alternative: Hochauflösende MRT
- Bei V.a. extrakranielle Beteiligung: MR-Angiografie, PET-CT oder CT [2]
-
Duplexsonografie der Aa. temporales sowie axillares (diagnostisch der Biopsie vorzuziehen) [2]
Die Riesenzellarteriitis tritt ohne Autoantikörper oder CK-Erhöhung auf!
Pathologie
- Histologische Veränderungen bei Riesenzellarteriitis: Granulomatöse Panarteriitis von mittelgroßen und großen Arterien mit Riesenzellen, Intimaproliferation (führt zu Stenose des Lumens), Fragmentierung der Lamina elastica interna und lymphomononukleärer Infiltration
Zum Vergleich: Normalbefund
Differenzialdiagnosen
- Differenzialdiagnosen der Polymyalgia rheumatica
- Rotatorenmanschettenläsion oder sonstige chronische Schmerzen der Schulter
- Medikamenteninduzierte Myopathie
- Rheumatoide Arthritis
- Polymyositis und Dermatomyositis
- Myasthenia gravis
- Malignome, paraneoplastische Syndrome, multiples Myelom
- Weitere: Endokarditis, septische Arthritis, Fibromyalgie-Syndrom
- Differenzialdiagnosen der Riesenzellarteriitis [3]
- Kopfschmerz anderer Ursache
- Andere Vaskulitiden
- Nicht-arteriitische anteriore ischämische Optikusneuropathie
- Weitere: Endokarditis, Malignome
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Polymyalgia rheumatica [4][5]
- Akut
- Initial: Orale Glucocorticoide (1. Wahl: Prednisolon) in mittlerer Dosierung (12,5–30 mg/Tag)
- Probatorische Gabe von Glucocorticoiden auch diagnostisch hilfreich: Promptes Ansprechen mit Schmerzlinderung („Diagnosis ex juvantibus“)
- Im Verlauf: Glucocorticoide schrittweise reduzieren und ausschleichen (gänzliches Ausschleichen nach durchschnittlich 2 Jahren)
- Ausschleichschema: Dosisreduktion um 2,5 mg alle 2–4 Wochen bis 10 mg, danach Reduktion um 1 mg/Monat
- Initial: Orale Glucocorticoide (1. Wahl: Prednisolon) in mittlerer Dosierung (12,5–30 mg/Tag)
- Chronisch: Glucocorticoiddosen unterhalb der Cushing-Schwelle anstreben
- Methotrexat oder IL-6-Hemmer Tocilizumab zur Einsparung von Glucocorticoiden [6]
- Supportiv
- Osteoporoseprophylaxe, Blutzuckerkontrollen (aufgrund der Langzeitbehandlung mit Glucocorticoiden)
Riesenzellarteriitis [2]
- Bei Augenbeteiligung
- Zunächst Hochdosis-Glucocorticoide (500–1.000 mg) i.v. für 3–5 Tage, anschließend weiter mit Akuttherapie
- Akut
- Initial: Orale Glucocorticoide in mittlerer bis hoher Dosierung (40–60 mg/Tag)
- Im Verlauf: Glucocorticoide schrittweise reduzieren (unter 5 mg/Tag nach einem Jahr) und bei anhaltender Remission Absetzversuch
- Bei Rezidiv
- Leichtes Rezidiv: Glucocorticoide mind. auf letzte wirksame Dosis erhöhen
- Schweres Rezidiv: Dosis wie bei neu diagnostizierter Riesenzellarteriitis
- Chronisch: Glucocorticoiddosen unterhalb der Cushing-Schwelle anstreben
- IL-6-Hemmer Tocilizumab (oder Methotrexat) zur Einsparung von Glucocorticoiden
- Supportiv
- Osteoporoseprophylaxe, Blutzuckerkontrollen (aufgrund der Langzeitbehandlung mit Glucocorticoiden)
- Prophylaxe mit ASS wird nicht mehr empfohlen [7]
Der Augenbefall bei Riesenzellarteriitis ist ein medizinischer Notfall und muss initial hochdosiert mit Glucocorticoiden (z.B. Prednisolon 1.000 mg/Tag i.v.) behandelt werden!
Bei konkretem klinischen Verdacht auf eine Riesenzellarteriitis („A. temporalis“) soll unverzüglich mit einer Glucocorticoidtherapie begonnen werden; die anstehende Diagnostik soll den Therapiebeginn nicht verzögern. (DGIM - Klug entscheiden in der Rheumatologie)
Komplikationen
Riesenzellarteriitis
- Unbehandelt: Erblindung in ca. 20–30% der Fälle
- Ischämische zerebrale Läsionen in <2%
-
Arteriitis anderer großer Gefäße (40%)
- Beispiel: Befall der thorakalen Gefäße (in ca. 10% der Fälle)
- Pathologische Blutdruckdifferenz der Arme
- Thorakale Aortitis (Aortenbogensyndrom) in ca. 3% der Fälle
- Beispiel: Befall der thorakalen Gefäße (in ca. 10% der Fälle)
Es werden die wichtigsten Komplikationen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Meditricks
In Kooperation mit Meditricks bieten wir durchdachte Merkhilfen an, mit denen du dir relevante Fakten optimal einprägen kannst. Dabei handelt es sich um animierte Videos und Erkundungsbilder, die auf AMBOSS abgestimmt oder ergänzend sind. Die Inhalte liegen meist in Lang- und Kurzfassung vor, enthalten Basis- sowie Expertenwissen und teilweise auch ein Quiz sowie eine Kurzwiederholung. Eine Übersicht aller Inhalte findest du im Kapitel „Meditricks“. Meditricks gibt es in unterschiedlichen Paketen – für genauere Informationen empfehlen wir einen Besuch im Shop.
Polymyalgia rheumatica
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Kodierung nach ICD-10-GM Version 2023
- M31.-: Sonstige nekrotisierende Vaskulopathien
- M31.5: Riesenzellarteriitis bei Polymyalgia rheumatica
- M31.6: Sonstige Riesenzellarteriitis
- M35.-: Sonstige Krankheiten mit Systembeteiligung des Bindegewebes
- M35.3: Polymyalgia rheumatica
- Exklusive: Polymyalgia rheumatica mit Riesenzellarteriitis (M31.5)
- M35.3: Polymyalgia rheumatica
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2023, DIMDI.