Zusammenfassung
Die Polycythaemia vera (PV) zählt zu den myeloproliferativen Neoplasien (MPN) und ist insb. durch eine EPO-unabhängige Erhöhung der Erythrozyten, des Hämoglobins sowie des Hämatokrits gekennzeichnet. Bei ca. 98% der Patienten kann eine JAK2-Mutation nachgewiesen werden, die meist nicht nur zur Steigerung der Erythropoese, sondern auch der Granulopoese und Megakaryopoese führt.
Typisch ist zunächst eine chronische, langjährige sog. polyzythämische Phase, bei der es aufgrund der Polyglobulie zur Rotfärbung des Gesichts, Juckreiz und schwerwiegenden Komplikationen durch thromboembolische Ereignisse (z.B. Budd-Chiari-Syndrom) kommen kann. Im Verlauf kann sich die sog. „Spent Phase“ mit Rückgang der Erythrozytose und Zunahme der Splenomegalie entwickeln. Letztlich kann die PV auch in eine Post-Polycythaemia-vera-Myelofibrose, ein myelodysplastisches Syndrom (MDS) oder eine akute Leukämie (meist AML) übergehen.
Die Therapie der Wahl zielt auf eine Prävention arterieller und venöser Thrombosen durch regelmäßige Aderlässe und Gabe von Thrombozytenaggregationshemmern ab. Langfristig können zytoreduktive Medikamente zur Reduzierung der Zellzahl nötig werden.
Epidemiologie
- Inzidenz: 2/100.000/Jahr in Europa
- Medianes Erkrankungsalter: 60–65 Jahre
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
Pathophysiologie
In 98% der Fälle Mutation im JAK2-(Januskinase-2‑)Gen (meist JAK2-V617F-Mutation) → Steigerung der Aktivität der Januskinase → Aufgehobene Regulation der Proliferation → Erythropoetin-unabhängige Hämatopoese → Zunächst alle drei myeloischen Zellreihen betroffen (Erythropoese, Granulopoese, Thrombozytopoese)
Symptomatik
Chronische (polyzythämische) Phase
- Polyglobulie
- Plethora
- Gerötetes Gesicht
- Blau-rote zyanotische Lippen
- Thrombose/Thromboembolie
- Tiefe Beinvenenthrombose
- Lungenembolie
- Herzinfarkt
- Ischämischer Schlaganfall
- Thrombosen ungewöhnlicher Lokalisationen (z.B. Budd-Chiari-Syndrom)
- Mikrozirkulationsstörungen: Parästhesien, Erythromelalgie
- Hypertonus
- Tinnitus, Ohrgeräusche
- Unspezifische zentralnervöse Symptome durch die Blutfülle: Schwindel, Kopfschmerzen, Sehstörungen
- Splenomegalie, Hepatomegalie
- Plethora
- Pruritus : Charakteristischerweise tritt der Juckreiz nach Wasserkontakt (aquagener Pruritus) oder Reibung auf
- Blutungen durch Funktionsstörung der Thrombozyten (erworbenes vWS)
- Petechiale Blutungen
- Nasen- und Zahnfleischbluten
Die Polycythaemia vera führt durch Polyglobulie und Thrombozytose meist zur Gerinnungsneigung, kann aber aufgrund einer Funktionsstörung der Thrombozyten auch zu einer Blutungsneigung führen!
Progrediente Spätphase („Spent Phase“)
- Polyglobulie↓
- Splenomegalie↑
- Fibrosierung des Knochenmarks
- Übergang in eine Post-Polycythaemia-vera-Myelofibrose möglich (sekundäre Form der Myelofibrose, siehe auch: Therapie der primären Myelofibrose)
Diagnostik
Allgemeine Diagnostik
- Gezielte Anamnese
- PV-typische Klinik (siehe: Polycythaemia vera - Klinik)
- Risikofaktoren für Gefäßkomplikationen
- Körperliche Untersuchung
- Palpation des Abdomens
- Hautinspektion
- Labor
- Erythrozyten↑
- Leukozyten↑ (häufig >12.000/μL)
- Thrombozyten↑ (häufig >450.000/μL)
- Erhöhter Zellzerfall: Harnsäure↑, LDH↑
- Alkalische Leukozytenphosphatase↑
- BSG↓
- Arterieller Sauerstoffpartialdruck (pO2): Normbereich
- Weitere empfohlene Untersuchungen: Quick, PTT, AST, ALT, γGT, Bilirubin
- Molekulargenetik
- Test auf JAK2-V617F-Mutation
- Wenn negativ, Screening auf JAK2-Exon-12-Mutationen
- „Non-Driver“-Mutationen (z.B. TET2, ASXL1, EZH2, DNMT3A, IDH1/IDH2, SRSF2)
- Weiterführende Diagnostik: Je nach Symptomatik
- Sono-Abdomen
- Röntgen-Thorax
- EKG, Echokardiogramm, Lungenfunktionsprüfung
- Thrombophilie-Screening bei stattgehabter Thrombose
Diagnosekriterien [1]
Zur Diagnose müssen alle drei Hauptkriterien oder die ersten beiden Hauptkriterien und das Nebenkriterium erfüllt sein.
- Hauptkriterien
-
Blutbild: Hb und Hämatokrit
- ♂: Hb >16,5 g/dL oder Hämatokrit >49%
- ♀: Hb >16,0 g/dL oder Hämatokrit >48%
-
Knochenmark (Aspirationszytologie und Histologie)
- Steigerung der Erythropoese, Granulopoese und Megakaryopoese
- Pleomorphe (vielgestaltige) Megakaryopoese
- Molekulargenetik: Nachweis einer JAK2-Mutation (JAK2-V617F- oder Exon-12-Mutation)
-
Blutbild: Hb und Hämatokrit
- Nebenkriterium
Auf eine Knochenmarkbiopsie kann verzichtet werden, wenn eine JAK2-Mutation nachgewiesen wurde, der Erythropoetinspiegel erniedrigt ist und die Erythrozytose persistierend sehr hoch ist (♂: Hb >18,5 g/dL oder Hämatokrit >55,5%, ♀: Hb >16,5 g/dL oder Hämatokrit >49,5%)!
Differenzialdiagnosen
Andere myeloproliferative Neoplasien (MPN)
Sekundäre Erythrozytose bzw. reaktive Erythrozytose
- Plasmavolumen↓ (Pseudopolyglobulie)
- Schwere Exsikkose, Dehydratation durch Verbrennungen
- Erhöhung der Erythrozytenzahl bei Stress
- Übermäßiger Nikotinkonsum
- Erworbene Zustände arterieller Hypoxie (Sauerstoffmangel)
- Chronische Herz- und Lungenerkrankungen
- Obstruktives Schlafapnoe-Syndrom
- Tumorerkrankungen mit paraneoplastischer EPO-Produktion
- Medikamentös induzierte Polyglobulie (z.B. Testosteron, EPO-Doping, SGLT2-Inhibitoren)
- Z.n. Nierentransplantation
Angeborene oder primäre Erythrozytose
Seltene Erkrankungen, die z.T. durch sporadische Mutationen entstanden sind.
- EPO-Rezeptor-Mutationen (gesteigerte EPO-Sensitivität erythroider Vorläufer)
- Chuvash-Polyzythämie (VHL-Mutation mit gestörter EPO-Genregulation)
- Familiäre Erythrozytose
- EPAS-(=HIF2A‑)Mutation oder
- GLN-(=PHD2‑)Mutation
- Hämoglobinopathie
- Erhöhte Sauerstoffaffinität oder
- Mangel an 2,3-BPG (z.B. 2,3-BPG-Mutase-Defizienz)
- Erythrozytose, aber Hb, Hämatokrit und MCV↓
- Heterozygote β-Thalassämie oder
- α-Thalassaemia minor oder
- Leichte Eisenmangelanämie
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Therapieziel
- Prävention arterieller oder venöser Thrombosen
- Symptomkontrolle, Verbesserung der Lebensqualität
- Vermeidung oder Verzögerung von Spätkomplikationen
Therapiestratifizierung
- Niedriges Risiko: <60 Jahre, keine stattgehabte Thromboembolie (im Gesamtverlauf)
- Hochrisiko: ≥60 Jahre und/oder stattgehabte Thromboembolie (im Gesamtverlauf)
Risikoreduktion
- Gewichtsnormalisierung
- Bewegung
- Vermeiden von Exsikkose (Wasserhaushalt)
- Vermeiden von langem Sitzen (Kompressionsstrümpfe)
- Nikotinkarenz
Erstlinientherapie [1]
- Aderlass: Die Polyglobulie und entsprechend die Hyperviskosität kann durch regelmäßige Aderlässe schnell und einfach reduziert werden
- 300–500 mL 1-2×/Woche bis Hämatokrit <45% (unabhängig vom Geschlecht) unter Volumenausgleich
- I.d.R. keine Eisensubstitution
- Alternativ: Erythrozytapherese (an entsprechendem Zentrum)
- Niedrig-dosierte Acetylsalicylsäure
- Bei Thrombozyten >1 Mio/μL zumindest auf <600.000/μL senken!
- Zytoreduktive Therapie : Insb. bei Hochrisiko, Progress der Myeloproliferation oder Zunahme des Thrombose-/Blutungsrisikos
- Hydroxyurea (Hydroxycarbamid) oder
- Ropeginterferon
Hydroxyurea kann das Risiko eines Übergangs in eine akute Leukämie erhöhen! Daher eher zurückhaltender Einsatz bei jüngeren Patienten!
Zweitlinientherapie [1]
- Ruxolitinib (JAK1/JAK2-Tyrosinkinase-Inhibitor)
- Zulassung: Resistenz oder Intoleranz gegenüber Hydroxyurea
Zweitlinientherapie der Polycythaemia vera | |
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Resistenz |
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Intoleranz |
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- Alternativen
- Hydroxyurea (Hydroxycarbamid) oder Interferon-α (Off Label), je nachdem, welches Medikament nicht in der Erstlinie eingesetzt wurde oder
- Busulfan oder
- Anagrelid (nur in Kombination)
- Allogene Stammzelltransplantation
- Milzbestrahlung und Splenektomie (hohes Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko)
Therapie in besonderen Situation [1]
Therapie in der Schwangerschaft
- Leitlinien-Empfehlung anhand von Fallberichten
- Engmaschiges Monitoring
- Niedrigdosierte Acetylsalicylsäure; peripartal durch Heparin ersetzen
- Bei stattgehabter Thrombose zusätzlich niedermolekulares Heparin
- Bei Hochrisikopatientinnen mit Therapieindikation am ehesten Interferon-α (Off Label)
Therapie bei operativen Eingriffen
- Nutzen-Risiko-Abwägung der Operation
- Bestmögliche Blutwerteinstellung (insb. Hämatokrit und Thrombozyten)
- Acetylsalicylsäure durch niedermolekulares Heparin ersetzen
Therapie der Post-Polycythaemia-vera-Myelofibrose
Die Therapie der primären Myelofibrose und der Post-Polycythaemia-vera-Myelofibrose unterscheidet sich nicht.
Therapie bei Übergang in eine akute Leukämie
- Allogene Stammzelltransplantation (wenn möglich)
Komplikationen
Die Polycythaemia vera ist aufgrund der zahlreichen Komplikationen eine lebensbedrohliche Erkrankung!
- Transformation in ein MDS, eine AML oder eine Post-Polycythaemia-vera-Myelofibrose
- Blutungen
- Thromboembolische Ereignisse
- Lungenembolie, ischämischer Schlaganfall, Herzinfarkt
- Budd-Chiari-Syndrom: Seltene Erkrankung mit thrombotischem Verschluss großer Lebervenen (Vv. hepaticae) [2]
- Ätiologie
- Polycythaemia vera (10–40%) oder andere MPN (erhöhte Blutviskosität)
- Maligne Neoplasien (z.B. durch Kompression der Venen)
- Sehr selten Medikamente (z.B. hormonelle Kontrazeptiva)
- Schwangerschaft
- Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH)
- Faktor-V-Leiden-Mutation, Mutationen der Gerinnungsfaktoren, Protein-C-Mangel, Protein-S-Mangel
- Morbus Behçet
- Anti-Cardiolipin-Antikörper (Nachweis bei etwa 25% der Betroffenen)
- Pathophysiologie: Thrombotischer Verschluss der Lebervenen → Venöse Stauung in der Leber und portale Hypertension → Hepatomegalie und Stauungsleber (ggf. Muskatnussleber) → Störung der Leberfunktion bis zur Leberzirrhose
- Symptome/Klinik
- Oberbauchschmerzen
- Bauchumfangszunahme (Aszites)
- Gastrointestinale Blutungen
- Caput medusae
- Diagnostik
- Palpation einer Hepatosplenomegalie
- Labor: Erhöhung von AST, ALT, alkalischer Phosphatase und Bilirubin, Verringerung des Serum-Albumins
- Farbdoppler-Sonografie der Lebervenen oder CT bzw. MRT
- Phlebografie: „Spinnenweben“-Muster
- Indikation: Negative Sonografie, aber klinisch starker V.a. Budd-Chiari-Syndrom
- HVPG-Messung
- Therapie
- Inkompletter Verschluss: Initial Heparin, anschließend Umstellung auf Vitamin-K-Antagonisten
- Kompletter Verschluss: TIPS (Transjugulärer intrahepatischer portosystemischer Shunt)
- Hepatorenales Syndrom mit progredientem Leberversagen: Lebertransplantation
- Prognose
- Unbehandelt (schwere Komplikationen): Sehr schlechte Prognose
- Frühe Diagnose und Therapie: Sehr günstige Prognose mit 5-JÜR von 95%
- Ätiologie
Es werden die wichtigsten Komplikationen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Nachsorge
- Körperliche Untersuchung und Blutbild: Initial kurzfristig, bei Stabilität der Werte 1×/Monat
- Peripherer Blutausstrich und Knochenmarkpunktion : Bei Anzeichen für Progress
- Sonografie der Milz: 1×/Jahr
- Quantitatives Verlaufsmonitoring mutierter JAK2-Allele (keine Routinediagnostik der Nachsorge)
Prognose
Die PV ist eine chronische Erkrankung. Bei guter Symptomkontrolle können Betroffene aber ein nahezu normales Leben führen. [1][3][4]
- Medianes Überleben ohne Therapie: 1,5 Jahre
- Medianes Überleben mit guter Kontrolle unter Therapie: 19 Jahre
- Übergang in Post-Polycythaemia-vera-Myelofibrose (sekundäre Myelofibrose): 15% nach 10 Jahren, 50% nach 20 Jahren
- Direkter Übergang in akute Leukämie: Selten (4%)
- Übergang der Post-Polycythaemia-vera-Myelofibrose in eine akute Leukämie: 20%
Prävention
- Bei familiärer Häufung : Ggf. humangenetische Beratung
Meditricks
In Kooperation mit Meditricks bieten wir durchdachte Merkhilfen an, mit denen du dir relevante Fakten optimal einprägen kannst. Dabei handelt es sich um animierte Videos und Erkundungsbilder, die auf AMBOSS abgestimmt oder ergänzend sind. Die Inhalte liegen meist in Lang- und Kurzfassung vor, enthalten Basis- sowie Expertenwissen und teilweise auch ein Quiz sowie eine Kurzwiederholung. Eine Übersicht aller Inhalte findest du im Kapitel „Meditricks“. Meditricks gibt es in unterschiedlichen Paketen – für genauere Informationen empfehlen wir einen Besuch im Shop.
Polycythaemia vera
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Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- D45: Polycythaemia vera
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.