Zusammenfassung
Neuralrohrdefekte oder embryonale Spaltbildungen stellen die häufigsten ZNS-Fehlbildungen dar. Sie entstehen zwischen dem 22. und 28. Schwangerschaftstag p.c., wenn es zu einem unvollständigen Verschluss des embryonalen Neuralrohrs (meist am kaudalen oder kranialen Ende) kommt. Spaltbildungen am kaudalen Ende sind häufiger, sie werden als Spina bifida bezeichnet.
Bei der Spina bifida occulta besteht lediglich eine Spaltbildung des knöchernen Wirbelbogens; bei der Spina bifida aperta sind in den Defekt zusätzlich die Meningen und evtl. das Rückenmark einbezogen, weshalb die Klinik wesentlich ausgeprägter ist. Diese zeigt sich z.B. bei der Meningomyelozele mit einer Querschnittssymptomatik in Abhängigkeit von der Lokalisation der Fehlbildung.
Die Klinik der kranialen Spaltbildungen (Cranium bifidum) ist ebenfalls stark von der Lokalisation und Ausprägung abhängig, wobei die Maximalvariante, der Anenzephalus, nicht mit dem Leben vereinbar ist.
Die Diagnose eines Neuralrohrdefekts wird häufig schon während der Schwangerschaft mittels Sonografie und der Bestimmung von erhöhten AFP- und Acetylcholinesterase-Werten im Fruchtwasser gestellt. Therapeutisch kann lediglich eine Defektdeckung erfolgen, die neurologische Prognose ist oft nur geringfügig beeinflussbar. Daher ist eine präventive Einnahme von Folsäure, die für die embryonale ZNS-Entwicklung wichtig ist, bereits vor Eintritt einer Schwangerschaft von großer Bedeutung.
Definition
- Neuralrohrdefekte (Dysrhaphien): Gruppe angeborener Fehlbildungen des Gehirns und des Rückenmarks, bei denen sich die Neuralplatte des Embryos nicht verschließt, sodass es zu Fehlanlagen des zentralen Nervensystems, der Wirbelsäule und des Schädels kommt.
- Entstehung zwischen dem 22. und 28. Schwangerschaftstag p.c. (4. SSW p.c. bzw. 6. SSW p.m.), während dieser Zeit schließt sich das embryonale Neuralrohr
Epidemiologie
- Häufigste Fehlbildungen des ZNS
- Häufigkeit: 1–2 Fälle/1000 Neugeborene
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Genetische Ursachen
- Folsäuremangel oder Störungen des Folsäuremetabolismus
Verlaufs- und Sonderformen
Spina bifida
- Definition [1][2][3]
- Spina bifida occulta (auch „verborgene Spina bifida“):
- Schlussstörung des knöchernen Wirbelbogens
- Rückenmark, Rückenmarkshäute und darüberliegende Haut intakt (kutane Stigmata möglich)
- Spina bifida aperta (auch „offene Spina bifida“): Von außen sichtbare Schlussstörung des knöchernen Wirbelbogens mit verschiedenen Ausprägungsformen
- Meningozele: Die Meningen wölben sich durch den Defekt nach außen
- Meningomyelozele: Das Rückenmark wölbt sich durch den Defekt nach außen
- Myeloschisis: Extremform mit freiliegendem Nervengewebe ohne darüber liegende Haut
- Spina bifida occulta (auch „verborgene Spina bifida“):
- Lokalisation: Meist im unteren Lumbal- bis Sakralbereich
- Symptomatik
- Spina bifida occulta: Meist klinisch unauffällig
-
Spina bifida aperta
- In Abhängigkeit von der Lokalisation und dem Ausmaß der neuronalen Schädigung
- Querschnittssymptomatik mit
- Schlaffen Lähmungen und (Fuß‑)Fehlstellungen
- Sensibilitätsstörungen
- Blasen- und Mastdarmfunktionsstörungen
- Evtl. Assoziation mit einem Hydrozephalus
Cranium bifidum
- Definition: Kraniale Spaltbildungen unter Einbeziehung von knöchernem Schädel und Gehirn
- Akranie
- Anenzephalus
- Enzephalozele
- Kraniale Meningozele
- Lokalisation: Sowohl frontal als auch okzipital möglich
- Symptomatik: Fehlbildungen und neurologische Störungen in unterschiedlichem Ausprägungsgrad, bei schweren Fehlbildungen keine Lebensfähigkeit
Dermalsinus
- Definition: Meist lumbale oder lumbosakrale Fistel, die von der Hautoberfläche zum Spinalkanal zieht und häufig in einem Dermoid oder Epidermoid endet.
- Ätiologie: Unvollständige oder fehlende Trennung des neuralen vom dermalen Ektoderm
- Klinik
- Hautveränderungen (Einziehungen, sichtbares Ostium, Hypertrichose, vaskuläre Naevi)
- Infektionen (Meningitis, Abszess)
- Neurologische Symptome durch Raumforderung im Spinalkanal
- Therapie: Neurochirurgische Exploration und evtl. Resektion von Dermoid oder Epidermoid
Diagnostik
- Bestimmung von AFP im Fruchtwasser oder im mütterlichen Plasma
- Bestimmung der ZNS-spezifischen Acetylcholinesterase (AChE-Test) im Fruchtwasser
- Sonografie in der Schwangerschaft
- Beurteilung von Schädelform, Gehirnstrukturen, Wirbelsäule und Rücken; V.a. Spina bifida bei [4]
- Lemon Sign: Zitronenförmiger Schädel im Horizontalschnitt aufgrund einer eingesunkenen frontalen Schädelkalotte
- Banana Sign: Bananenförmiges Cerebellum im Horizontalschnitt aufgrund einer Verschiebung zerebellärer Strukturen in Richtung Foramen ovale
- Ventrikelerweiterungen
- Haut- bzw. Weichteildefekte über der Wirbelsäule
- Beurteilung von Schädelform, Gehirnstrukturen, Wirbelsäule und Rücken; V.a. Spina bifida bei [4]
- MRT
Differenzialdiagnosen
Tethered-Cord-Syndrom
- Definition: Aufgrund einer Anheftung des Rückenmarks (meist des Filum terminale) an der Dura können die unteren Rückenmarksanteile nicht mit dem Wachstum im Spinalkanal aufsteigen
- Ätiologie
- Verwachsungen der Meningen
- Verwachsung oder Verdickung des Filum terminale
- Lipome, Dermoide
- Symptomatik
- (Bewegungsabhängige) Rückenschmerzen
- Störungen von Sensibilität und Motorik, evtl. Fußfehlstellungen
- Blasen-/Mastdarmstörungen
- Diagnostik: MRT
- Therapie: Operative Lösung der Verwachsungen
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
- Operative Defektdeckung
- Pränatal (Spina bifida)
- Offene oder laparoskopische intrauterine Defektdeckung i.d.R. zwischen 23. und 25. SSW [5]
- Günstiges postnatales Outcome [6]
- Postnatal
- Bei überhäutetem Defekt elektiv
- Bei offenem Defekt so früh wie möglich, um Infektionen und weitere Gewebsschädigungen zu verhindern
- Pränatal (Spina bifida)
- Geburtsmodus: I.d.R. primäre Sectio caesarea
Prävention
Studientelegramme zum Thema
- Studientelegramm 266-2023-3/3: Folsäuresubstitution zur Vorbeugung von Neuralrohrdefekten
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Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- Q05.-: Spina bifida
- Inklusive: Hydromeningozele (spinal), Meningomyelozele, Meningozele (spinal,) Myelomeningozele Myelozele, Rhachischisis, Spina bifida (aperta) (cystica), Syringomyelozele
- Exklusive: Arnold-Chiari-Syndrom (Q07.0), Spina bifida occulta (Q76.0)
- Q05.0: Zervikale Spina bifida mit Hydrozephalus
- Q05.1: Thorakale Spina bifida mit Hydrozephalus
-
Spina bifida:
- dorsal mit Hydrozephalus
- thorakolumbal
-
Spina bifida:
- Q05.2: Lumbale Spina bifida mit Hydrozephalus
- Lumbosakrale Spina bifida mit Hydrozephalus
- Q05.3: Sakrale Spina bifida mit Hydrozephalus
- Q05.4: Nicht näher bezeichnete Spina bifida mit Hydrozephalus
- Q05.5: Zervikale Spina bifida ohne Hydrozephalus
- Q05.6: Thorakale Spina bifida ohne Hydrozephalus
-
Spina bifida:
- dorsal o.n.A.
- thorakolumbal o.n.A.
-
Spina bifida:
- Q05.7: Lumbale Spina bifida ohne Hydrozephalus
- Lumbosakrale Spina bifida o.n.A.
- Q05.8: Sakrale Spina bifida ohne Hydrozephalus
- Exklusive: Sinus sacralis dermalis (L05.‑)
- Q05.9: Spina bifida, nicht näher bezeichnet
- Q06.- Sonstige angeborene Fehlbildungen des Rückenmarks
- Q06.8 Sonstige näher bezeichnete angeborene Fehlbildungen des Rückenmarks
- Q76.-: Angeborene Fehlbildungen der Wirbelsäule und des knöchernen Thorax
- Q76.0: Spina bifida occulta
- Exklusive: Meningozele (spinal) (Q05.‑), Spina bifida (aperta) (cystica) (Q05.‑)
- O35.-: Betreuung der Mutter bei festgestellter oder vermuteter Anomalie oder Schädigung des Fetus
- O35.0: Betreuung der Mutter bei (Verdacht auf) Fehlbildung des Zentralnervensystems beim Fetus
- Betreuung der Mutter bei (Verdacht auf):
- Anenzephalus beim Fetus
- Spina bifida beim Fetus
- Exklusive: Chromosomenanomalie beim Fetus (O35.1)
- Betreuung der Mutter bei (Verdacht auf):
- O35.0: Betreuung der Mutter bei (Verdacht auf) Fehlbildung des Zentralnervensystems beim Fetus
- Q00.0 Anenzephalie
- Inklusive: Akranie, Amyelenzephalie, Azephalie, Hemienzephalie, Hemizephalie
- Q00.1 Kraniorhachischisis
- Q00.2 Inienzephalie
- Q01.- Enzephalozele
- Inklusive: Enzephalomyelozele, Hydroenzephalozele, kraniale Hydromeningozele, Meningoenzephalozele, zerebrale Meningozele
- Exklusive: Erworbene Enzephalozele (G93.5), Meckel-Gruber-Syndrom (Q61.9)
- Q01.0 Frontale Enzephalozele
- Q01.1 Nasofrontale Enzephalozele
- Q01.2 Okzipitale Enzephalozele
- Q01.8 Enzephalozele sonstiger Lokalisationen
- Q01.9 Enzephalozele, nicht näher bezeichnet
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.