Abstract
Beim Nephroblastom (Wilms-Tumor) handelt es sich um die häufigste maligne Neoplasie der Niere im Kindesalter. Ätiologisch ist eine genetische Mutation meist Ursache der Erkrankung, zudem besteht eine Assoziation mit Fehlbildungen und Syndromen, wie z.B. dem WAGR-Syndrom. Oft bleibt diese seltene Erkrankung klinisch asymptomatisch und ist daher in ca. 10% der Fälle bei Diagnosestellung bereits metastasiert. Therapeutisch kommen je nach Tumorstadium die radikale Nephrektomie und/oder radiochemotherapeutische Verfahren zum Einsatz. Eine Kombination dieser Verfahren verspricht eine sehr gute Prognose, so dass über 90% der Patienten geheilt werden können.
Epidemiologie
- Inzidenz : 1/100.000 Kinder <15 J. pro Jahr
- Häufigster Nierentumor bei Kindern
- Alter: Tumor des Kleinkindesalters
- Geschlecht: ♀ > ♂
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Embryonaler Tumor, genaue Pathogenese unklar
- Genetische Komponenten
- Assoziation mit
- Syndromen, bspw.:
- WAGR-Syndrom = Wilms-Tumor, Aniridie, (uro‑)genitale Fehlbildung (Gonadoblastom), geistige Retardierung
- Wiedemann-Beckwith-Syndrom
- Neurofibromatose Typ 1
- Denys-Drash-Syndrom
- Fehlbildungen, bspw.:
- Hemihypertrophie
- Aniridie
- Urogenitale Fehlbildungen, bspw. Hufeisenniere, Nephroblastomatose
- Syndromen, bspw.:
Klassifikation
Nierentumoren im Kindesalter werden entsprechend ihrer histologischen Differenzierung in drei Risikogruppen eingeteilt. In Abhängigkeit von der vorliegenden Risikogruppe erfolgt die Auswahl eines geeigneten postoperativen Chemotherapie-Regimes (siehe auch Empfehlungen der Leitlinie der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH)).
Klassifikation und Risikostratifizierung von kindlichen Nierentumoren nach präoperativer Chemotherapie
- Low-Risk-Gruppe (niedrige Malignität)
- Mesoblastisches Nephrom
- Zystisches, partiell differenziertes Nephroblastom
- Komplett nekrotisches Nephroblastom
- Intermediate-Risk-Gruppe (Standardrisikotyp)
- Nephroblastom – Epithelialer Typ
- Nephroblastom – Stromareicher Typ
- Nephroblastom – Mischtyp
- Nephroblastom – Regressiver Typ
- Nephroblastom mit fokaler Anaplasie
- High-Risk-Gruppe (hohe Malignität)
Klassifikation und Risikostratifizierung primär resezierter kindlicher Nierentumoren
- Low-Risk-Gruppe (niedrige Malignität)
- Mesoblastisches Nephrom
- Zystisches, partiell differenziertes Nephroblastom
- Intermediate-Risk-Gruppe (Standardrisikotyp)
- Nicht-anaplastisches Nephrom und seine Varianten
- Nephroblastom mit fokaler Anaplasie
- High-Risk-Gruppe (hohe Malignität)
Symptome/Klinik
- Symptomarme Erkrankung
- Zunahme des Bauchumfangs (Völlegefühl)
- Abgeschlagenheit, ggf. Fieber
- Ggf. begleitende Fehlbildungen
- Selten: Schmerzen, Hämaturie, Hypertonus
Stadien
Stadieneinteilung des Nephroblastoms nach der Société Internationale d'Oncologie Pédiatrique (SIOP)
Stadium | Tumorausbreitung |
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I |
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II |
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III |
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IV |
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V |
Diagnostik
- Körperliche Untersuchung
- Labor: Keine spezifischen Marker bekannt
- Bildgebung
- Abdomensonografie
-
Sonografie und Doppler-Sonografie der V. renalis und V. cava inf. bis zum rechten Atrium
- Bei Nachweis eines Tumorthrombus: Echokardiografie
-
MRT Abdomen mit Kontrastmittel, bei Kontraindikation: CT Abdomen mit Kontrastmittel
- Bestimmung von Tumorvolumen und Ausdehnung, insb. Nierenhilus-, Zwerchfell- und Pleurabeteiligung, Organinfiltrationen
- Nachweis bzw. Ausschluss von abdominellen Organmetastasen bzw. eines Gefäßthrombus in V. renalis oder V. cava inf.
- CT Thorax nativ: Nachweis bzw. Ausschluss von Lungenmetastasen
- Röntgen-Thorax a.p. oder p.a.
- MAG3-Szintigrafie (bei bilateralem Nierentumor und nierenerhaltender Therapie)
- MRT Schädel (bei fokal-neurologischen Ausfällen oder anderen Hinweisen auf eine intrakranielle Metastasierung)
- Echokardiografie (vor und nach kardiotoxischen Chemotherapeutika, bspw. Doxorubicin)
- Tumorbiopsie mit Histopathologie und Molekulargenetik: Nur in Ausnahmefällen aufgrund des Risikos einer peritonealen Tumorzellaussaat!
- Bei eindeutiger bildgebender Diagnose im Alter >6 Monate und <16 Jahren nie indiziert
- In Ausnahmefällen bei unklarem bildgebendem Befund vor neoadjuvanter Chemotherapie: CT- oder Sonografie-kontrollierte Feinnadelbiopsie oder perkutane Stanzbiopsie
- Audiogramm (vor und nach ototoxischen Chemotherapeutika)
Da die neoadjuvante Chemotherapie ohne histologischen Befund durchgeführt wird, sollte eine referenzradiologische Beurteilung der Bildgebung erfolgen!
Differenzialdiagnosen
Nephroblastom (Wilms-Tumor) | Neuroblastom | |
---|---|---|
123I-MIBG-Szintigrafie | negativ | positiv |
Katecholaminmetabolite im Urin | negativ | positiv |
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Übersicht der Standardtherapiemöglichkeiten
- Präoperativ : 4–6 wöchige Chemotherapie (Kinder zwischen 6 Monaten und 16 Jahren)
- Operativ: Radikale Nephrektomie (en-bloc ohne Tumorruptur) oder nierenerhaltende Operation im Stadium V (beide Nieren betroffen)
- Postoperativ: Unterschiedliche Radio- und Chemotherapie-Regime
Eine Kombination von radikaler Nephrektomie sowie unterschiedlichen Radio-und Chemotherapieverfahren verspricht die höchste Heilungsrate bei Wilms-Tumoren!
Empfehlungen der Leitlinie der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH)
Präoperative Chemotherapie | Operation | Postoperative Chemotherapie | |
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Stadium I | Kinder >6 Monate: Chemotherapie (4–6 Wochen) | Radikale Nephrektomie (en-bloc ohne Tumorruptur) |
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Stadium II |
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Stadium III |
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Stadium IV |
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Stadium V | Nierenerhaltende Operation und individuelles Vorgehen |
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Prognose
- Behandelt sehr gute Prognose: Ca. 90% der Patienten können geheilt werden[1]
- Unbehandelt immer letal
Prävention
- Regelmäßige Abdomensonografie bei Vorliegen von Erkrankungen mit erhöhtem Nephroblastom-Risiko, bspw. Wiedemann-Beckwith-Syndrom, WAGR-Syndrom, Neurofibromatose Typ 1, Nephroblastomatose, Fehlbildungen
- Tumornachsorge (Tertiärprävention)
- Engmaschige bildgebende Untersuchungen
- Röntgen-Thorax
- Abdominelle Sonografie oder MRT
- Nephrologische Nachsorge im Langzeit-Follow-up
- Urinanalyse und Serumkreatinin
- Frühzeitige Erkennung von Hypertonie, Abnahme der GFR und geringgradiger Proteinurie
- Engmaschige bildgebende Untersuchungen
Die meisten Rezidive und Metastasen treten innerhalb der ersten beiden Jahre nach Therapieende auf!
Assoziiert auftretende Syndrome
- WAGR-Syndrom = Wilms-Tumor, Aniridie, (uro‑)genitale Fehlbildung, geistige Retardierung
- Prävalenz: <1/100.000 Geburten
- Ätiologie
- Deletionen mehrerer Gene auf Chromosom 11, einschließlich des Aniridie-Gens PAX 6 und des Wilms-Tumor-Suppressor-Gens 1 (WT1)
- De-novo-Mutation oder Vererbung möglich
- Klinik: Symptomkomplex
- Wilms-Tumor bei etwa 50% der Patienten
- Aniridie, ggf. Glaukom, Katarakt, Mikrophthalmie, Auffälligkeiten an Cornea oder Retina
- Urogenitale Fehlbildungen: Gonadendysgenesie, bspw. intersexuelles Genitale, Hodenektopie
- Variable Intelligenzminderung
- Niereninsuffizienz im Verlauf in ca. 10% der Fälle
- Diagnostisches Vorgehen
- Lebenslang engmaschige Kontrolle der Nierenfunktion
- Regelmäßige Untersuchungen (insb. Abdomensonografie alle 3 Monate) zur Früherkennung eines Nephroblastoms
- Chromosomenanalyse und humangenetische Beratung empfohlen
- Therapie
- Bei Aniridie: Symptomatisch (Sehhilfen)
- Bei Tumorentwicklung oder Fehlbildungen: Operativ
- Wiedemann-Beckwith-Syndrom = Exomphalos, Makroglossie, Gigantismus
- Neurofibromatose Typ 1
- Denys-Drash-Syndrom (DDS)
- Prävalenz: <1/1.000.000 Geburten
- Ätiologie: Meist de-novo-Mutation im Wilms-Tumor-Suppressor-Gen 1 (WT1)
- Klinik: Symptomkomplex
- Uni- oder bilaterales Nephroblastom (oft als erstes Krankheitszeichen)
- Urogenitale Fehlbildungen, insb. Gonadendysgenesie und 46,XY-DSD mit Störungen der Gonadenentwicklung
- Progrediente diffuse Mesangiosklerose und nephrotisches Syndrom, oft bereits in den ersten Lebensmonaten
- Diagnostisches Vorgehen
- Lebenslang engmaschige Kontrolle der Nierenfunktion
- Regelmäßige Untersuchungen (insb. Abdomensonografie alle 3 Monate) zur Früherkennung eines Nephroblastoms
- Karyotypisierung, insb. bei allen betroffenen Mädchen
- Therapie: Frühzeitige bilaterale Nephrektomie mit anschließender Nierentransplantation
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2023
- C64: Bösartige Neubildung der Niere, ausgenommen Nierenbecken
- Nephroblastom (Wilms-Tumor)
- Exklusive: Nierenbecken (C65), Nierenbeckenkelche (C65)
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2023, DIMDI.