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Myeloproliferative Neoplasien

Letzte Aktualisierung: 13.3.2023

Abstracttoggle arrow icon

Zur Gruppe der myeloproliferativen Neoplasien (MPN) zählen die chronische myeloische Leukämie (CML), die Polycythaemia vera (PV), die essenzielle Thrombozythämie (ET) sowie die primäre Myelofibrose (PMF). Die chronische Eosinophilenleukämie, not otherwise specified (CEL-NOS), und die chronische Neutrophilenleukämie (CNL) hingegen stellen Raritäten dar. Sie alle gehen von einer monoklonalen Proliferation einer hämatopoetischen Stammzelle der myeloischen Reihe aus. Bei der CML steht eine massive Erhöhung der Granulozyten, bei der PV vor allem der Erythrozyten und bei der ET der Thrombozyten im Vordergrund. Für die PMF ist eine Panzytopenie nach einer initialen hyperproliferativen Phase typisch. Die MPN können ineinander und letztlich auch in eine akute myeloische Leukämie (AML) übergehen. Die CML und die PV werden in eigenständigen Kapiteln behandelt. Die CEL-NOS wird genauer im Kapitel „Leitfaden Eosinophilie“ beschrieben.

Ätiologietoggle arrow icon

Pathogenese

Übersicht der Treibermutationen [1]

Übersicht der Treibermutationen
JAK2-Mutation(Janus-Kinase) MPL-Mutation (Thrombopoietin) CALR-Mutation (Calreticulin)
PV ca. 98%
ET ca. 50% ca. 3% ca. 30%
PMF ca. 60% ca. 8% ca. 30%

Die Diagnose der CML wird sicher durch den Nachweis des pathognomonischen Philadelphia-Chromosoms gestellt (BCR-ABL-Fusionsgen)!

Diagnostiktoggle arrow icon

Neue Behandlungsmöglichkeiten und unterschiedliche Überlebensraten erfordern eine sichere Differenzierung der zur Gruppe der MPN gehörigen Neoplasien. Insb. in frühen Stadien, die sich häufig als anhaltende Thrombozytosen präsentieren, wird die Differenzialdiagnostik erschwert. Nur eine Zusammenschau hämatologischer, molekulargenetischer, zytologischer sowie insb. histomorphologischer Befunde ermöglicht die richtige Einordnung der Erkrankung.

Diagnostisches Vorgehen

Molekulargenetik [2]

  • PCR: Test auf
    1. JAK2-V617F-Mutation, bei negativem Befund:
    2. CALR-Mutation, ggf. JAK2 Exon 12 , bei negativem Befund:
    3. MPL-W515-Mutation, bei negativem Befund oder initial bei V.a. CML:
    4. BCR-ABL1-Transkripte
    5. CSF3R-T618I-Mutation

Knochenmarkbiopsie [2]

Trotz molekulargenetischer Untersuchungen ist die Differenzialdiagnostik der PV, ET und PMF erschwert, da sie sich allesamt meist als thrombozythämische Frühformen präsentieren. Außerdem sind die molekulargenetischen Marker nicht spezifisch, anders als bei der CML. Durch den Nachweis morphologischer Unterschiede in der Knochenmarkbiopsie wird eine frühe Differenzierung jedoch möglich:

Essenzielle Thrombozythämietoggle arrow icon

Definition [3]

Die essenzielle Thrombozythämie (ET) zählt zu den myeloproliferativen Neoplasien (MPN) und ist durch eine chronische Thrombozytose (>450.000/μL) gekennzeichnet.

Pathogenese

Klinik

  1. Thromboembolische Ereignisse
  2. Blutungen

Klinisch präsentiert sich die essenzielle Thrombozythämie insb. durch Thromboembolien – daneben können aber aufgrund funktionsloser Thrombozyten auch petechiale bis schwere Blutungen auftreten!

Diagnosekriterien

Alle 4 Hauptkriterien oder die ersten 3 Hauptkriterien und ein Nebenkriterium müssen erfüllt sein!

Wichtige Differenzialdiagnose

Therapie [3]

Auswahl der Therapie je nach Risiko
Risikofaktor Therapie der Wahl
Niedrigrisiko
Intermediärrisiko
  • ASS in thrombozytenaggregationshemmender Dosierung
Hochrisiko
  • (≥1 Risikofaktor)
  • Therapie der Wahl: Hydroxyurea
  • Alternativen
    • Anagrelid
      • Rote-Hand-Brief zu Anagrelid (Xagrid®): Erhöhtes Risiko für thromboembolische
        Komplikationen, inkl. ischämischem Schlaganfall, bei abruptem Absetzen der Behandlung [4]
    • Interferon-α

Hydroxyurea sollte aufgrund des erhöhten Risikos eines Übergangs (Transformation) in eine aggressivere hämatologische Erkrankung bei jüngeren Patienten zurückhaltend eingesetzt werden!

Therapie der ET in der Schwangerschaft

  • Ggf. niedrigdosiertes ASS
  • Bei Hochrisikopatientinnen mit Therapieindikation am ehesten Interferon-α

Komplikationen [5]

Bei Verdacht auf Akzeleration (Blutbildveränderung, Vergrößerung der Milz) ist eine Knochenmarkpunktion zum Ausschluss eines Übergangs in eine andere hämatologische Erkrankung indiziert!

Bei Anamnese eines aquagenen Juckreizes und langsam ansteigenden Hämatokrits bei Patienten mit JAK2-positiver ET an Übergang in eine PV denken!

Nachsorge

  • Kontrollintervall: Zunächst alle 1–2 Wochen, bei stabilem Patient alle 4–12 Wochen und später halbjährliche Kontrollen
  • Diagnostik
    • Anamnese ET-spezifischer Symptome und Nebenwirkungen der Therapie
    • Komplettes Blutbild
    • Halbjährlich Blutausstriche
    • Jährlich Sonografie des Abdomen (Ausmessen der Milz in 3 Ebenen)

Primäre Myelofibrose (früher: Osteomyelofibrose)toggle arrow icon

Definition [6]

Die primäre Myelofibrose (PMF) zählt zu den myeloproliferativen Neoplasien (MPN) und ist durch eine gestörte Blutbildung (Thrombo-/Leukozytose, Anämie und Splenomegalie) mit progredienter Knochenmarkfibrose und letztlich einer Panzytopenie gekennzeichnet.

Klinik

Die PMF ist zunächst durch eine hyperproliferative Phase mit Thrombo- und Leukozytose gekennzeichnet. Aufgrund einer progredienten Knochenmarkfibrose kommt es jedoch im Verlauf zu einer Panzytopenie!

Diagnosekriterien [7]

Alle Hauptkriterien und ≥1 Nebenkriterium müssen erfüllt sein.

Die Knochenmarkzytologie nach Aspiration ist meist nicht ergiebig (Punctio sicca)!

Bei der PMF können Dakryozyten als Zeichen einer extramedullären Blutbildung vorkommen!

Klassifikation der Knochenmarkfibrose [7]

  • MF 0: Keine Faservermehrung
  • MF 1: Leichte Faservermehrung
  • MF 2: Deutliche Faservermehrung
  • MF 3: Ausgeprägte Faservermehrung (Fibrose), sklerotische Knochenneubildung (Osteosklerose) und Einengung der Knochenmarkräume (Osteomyelosklerose)

Differenzialdiagnosen

Diagnostik der Post-Polycythaemia-vera-Myelofibrose bzw. Post-essenziellen-Thrombozythämie-Myelofibrose

  • Hauptkriterien
  • Nebenkriterien
    • Leukoerythroblastisches Blutbild
    • Erhöhte LDH (gilt nur für ET)
    • Anämie
      • Bei PV: Nicht mehr erforderliche Aderlasstherapie oder zytoreduktive Therapie
      • Bei ET: Kontinuierlicher Hb-Abfall ≥2 g/dL
    • Zunehmende Splenomegalie
    • Neu aufgetretene B-Symptomatik

Alle Hauptkriterien und ≥2 Nebenkriterien müssen erfüllt sein

Prognose und Risikostratifizierung [6]

International Prognostic Scoring System bei primärer Myelofibrose

  • Risikofaktoren: Jeder Risikofaktor zählt 1 Punkt
Punkte Prognose Mediane Überlebenszeit (Monate)
0 Niedrigrisiko 135
1 Intermediärrisiko 1 95
2 Intermediärrisiko 2 48
≥3 Hochrisiko 27

Dynamic International Prognostic Scoring System (DIPSS)

  • Dynamischer Risikoscore im Verlauf [8]
  • Dient der Reevaluation der Therapieentscheidung
  • Risikofaktoren entsprechend IPSS bei primärer Myelofibrose
    • Ausnahme: Hb <10 g/dL zählt 2 Punkte (= mind. Intermediärrisiko 1)
Punkte Prognose
0 Niedrigrisiko
1–2 Intermediärrisiko 1
3–4 Intermediärrisiko 2
5–6 Hochrisiko

DIPSS-Plus

  • Erweiterung um zusätzliche prognostische Variablen [9]
    • Transfusionsbedarf
    • Thrombozyten <100.000/μL
    • Ungünstiger Karyotyp (z.B. zweite Aberration einschließlich -7/7q-, i(17q), inv(3), -5/5q-12p- oder 11q23‑)

Therapie der primären Myelofibrose [6]

Die Therapie der primären Myelofibrose und der Post-Polycythaemia-vera-Myelofibrose bzw. Post-essenziellen-Thrombozythämie-Myelofibrose unterscheidet sich nicht.

Verlaufskontrollen

  • Kontrollabstände (abhängig von Therapie und Verlauf): Initial wöchentlich, später vierteljährlich oder in noch längeren Abständen
  • Klinische Untersuchung (Milzgröße kontrollieren), Differenzialblutbild und klinische Chemie
  • Jährlich Oberbauch-Sonografie
  • Bei V.a. Progress: Knochenmarkpunktion

Bei V.a. Progress ist eine Knochenmarkpunktion indiziert, um einen seltenen Übergang in eine akute Leukämie nicht zu übersehen!

Chronische Neutrophilenleukämietoggle arrow icon

Definition

Die chronische Neutrophilenleukämie (CNL) zählt zu den myeloproliferativen Neoplasien (MPN) und ist gekennzeichnet durch eine Vermehrung der neutrophilen Granulozyten im peripheren Blut und im Knochenmark.

Klinik

Diagnostik [7]

Bei Vorliegen auffälliger Labor- und Knochenmarkbefunde sollten zunächst andere myeloproliferative oder myelodysplastische Erkrankungen ausgeschlossen werden. Die Diagnose der CNL ist somit eine Ausschlussdiagnose.

  • Leukozyten im peripheren Blut: >25.000/μL
  • Hyperzelluläres Knochenmark
  • Ausschluss der Differenzialdiagnosen
    • Kein Hinweis auf eine CML
    • Kein Hinweis auf eine andere MPN oder ein MDS
    • Kein Nachweis eines Rearrangements in PDGFRA, PDGFRB, FGRF1 oder von PCM1-JAK2
  • Mutationsanalyse
    • CSF3R-Mutation (häufigste: CSF3R T618I-Mutation)
    • Keine CSF3R-Mutation: Diagnosestellung bei Erfüllung folgender Kriterien
      • Persistierende Neutrophilie >3 Monate
      • Splenomegalie
      • Kein Hinweis auf eine reaktive Genese
      • Kein Hinweis auf eine Plasmazellneoplasie

Therapie [11]

Prognose [11]

  • Übergang in eine Blastenkrise oder AML möglich
  • Medianes Gesamtüberleben liegt bei ca. 24 Monaten

Kodierung nach ICD-10-GM Version 2023toggle arrow icon

Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2023, DIMDI.

Quellentoggle arrow icon

  1. Myeloproliferative Neoplasien (MPN) (früher: Chronische Myeloproliferative Erkrankungen (CMPE)).Stand: 1. Juli 2018. Abgerufen am: 6. August 2018.
  2. Szuber et al.:Chronic neutrophilic leukemia: new science and new diagnostic criteriaIn: Blood Cancer Journal. 2018, .
  3. Arber et al.:The 2016 revision to the World Health Organization classification of myeloid neoplasms and acute leukemiaIn: Blood. Band: 127, Nummer: 20, 2016, doi: 10.1182/blood-2016-03-643544 . | Open in Read by QxMD.
  4. Essentielle (oder primäre) Thrombozythämie (ET).Stand: 1. September 2014. Abgerufen am: 2. August 2018.
  5. Rote-Hand-Brief zu Xagrid® (Anagrelidhydrochlorid): Thromboserisiko einschließlich Hirninfarkt nach abruptem Absetzen der Behandlung.Stand: 22. Februar 2022. Abgerufen am: 22. Februar 2022.
  6. Cerquozzi, Tefferi:Blast transformation and fibrotic progression in polycythemia vera and essential thrombocythemia: a literature review of incidence and risk factorsIn: Blood Cancer Journal. Band: 5, Nummer: 11, 2015, doi: 10.1038/bcj.2015.95 . | Open in Read by QxMD p. e366-e366.
  7. Primäre Myelofibrose (PMF).Stand: 1. Juni 2014. Abgerufen am: 6. August 2018.
  8. Passamonti et al.:A dynamic prognostic model to predict survival in primary myelofibrosis: a study by the IWG-MRT (International Working Group for Myeloproliferative Neoplasms Research and Treatment)In: Blood. 2010, doi: 10.1182/blood-2009-09-245837 . | Open in Read by QxMD.
  9. Gangat et al.:DIPSS Plus: A Refined Dynamic International Prognostic Scoring System for Primary Myelofibrosis That Incorporates Prognostic Information From Karyotype, Platelet Count, and Transfusion StatusIn: Journal of Clinical Oncology. 2011, doi: 10.1200/JCO.2010.32.2446 . | Open in Read by QxMD.
  10. EMA - Ruxolitinib Product Information 2017.Stand: 24. April 2017. Abgerufen am: 8. August 2018.
  11. Kvasnicka et al.:Differenzialdiagnose myeloproliferativer NeoplasienIn: Trillium Krebsmedizin. 2015, .
  12. Herold: Innere Medizin 2017. Herold 2016, ISBN: 3-981-46606-3.

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