Abstract
Kreuzschmerzen sind Schmerzen unterschiedlicher Intensität im Verlauf der unteren Wirbelsäule. Sie sind ein weit verbreitetes Beschwerdebild und nehmen einen großen sozioökonomischen Stellenwert ein. Je nach Lokalisation, Klinik und Verlauf ist dieses Leitsymptom vielen verschiedenen Ursachen zuzuschreiben. Eine ausführliche Anamnese und körperliche Untersuchung sind hier für die weitere Diagnostik und Therapie wegweisend.
Findet sich (wie bei einem Großteil der Patienten) kein Hinweis auf eine pathologische Ursache, spricht man von unspezifischem Rücken- bzw. Kreuzschmerz. Dieser wird fast immer konservativ behandelt und erfordert eine gute Arzt-Patienten-Interaktion mit ausführlicher Aufklärung, Therapieplanung und Nachsorgeempfehlung. Spezifischem Kreuzschmerz hingegen liegt eine somatische Ursache zugrunde, welche ein individuelles Therapiekonzept erfordert, um die Beschwerden zu lindern und den Patienten wieder beruflich und sozial zu integrieren.
Definition
- Kreuzschmerz: Schmerzen im Bereich des Rückens zwischen Gesäßfalte und Rippenbogen
- Ursache
- Unspezifischer Kreuzschmerz: Kein eindeutiger Hinweis auf eine spezifisch zu behandelnde Ursache
- Spezifischer Kreuzschmerz: Feststellbare somatische Ursache
- Lokalisation
- Dorsalgie: Schmerzen der Brustwirbelsäule
- Lumbalgie: Schmerzen der Lendenwirbelsäule
- Femoralgie: Von der Lendenwirbelsäule ausgehende Schmerzen im Innervationsgebiet des N. femoralis
- Ischialgie: Von der Lendenwirbelsäule ausgehende Schmerzen im Innervationsgebiet des N. ischiadicus
Epidemiologie
- Vorkommen nach Entität
- Unspezifischer Kreuzschmerz: Häufig (85%)
- Spezifischer Kreuzschmerz: Selten (15%)
- Sozioökonomische Belastungen durch Kreuzschmerz
- Etwa 1% aller direkten Krankheitskosten [1]
- 15% aller Arbeitsunfähigkeitstage
- 18% aller Frühberentungen
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Einteilung
- Nach klinischer Symptomatik
- Lokal
- Pseudoradikulär
- Radikulär
- Nach Dauer
- Akut (<6 Wochen)
- Subakut (6 –12 Wochen)
- Chronisch (>12 Wochen)
- Rezidivierend (wiederholte Beschwerdesymptomatik nach mind. sechsmonatigem beschwerdefreien Intervall)
- Nach Schmerzintensität
- Akuter Schmerz: Einteilung anhand der Visuellen Analogskala oder der Numerischen Rating-Skala
- Chronischer Schmerz: Einteilung nach Korff et al. (1992) [2]
- Grad 0: Keine Schmerzen
- Grad 1: Schmerzen mit geringer schmerzbedingter Funktionseinschränkung und niedriger Intensität
- Grad 2: Schmerzen mit geringer schmerzbedingter Funktionseinschränkung und höherer Intensität
- Grad 3: Mittlere schmerzbedingte Funktionseinschränkung, unabhängig von der Intensität
- Grad 4: Hohe schmerzbedingte Funktionseinschränkung, unabhängig von der Intensität
Ätiologie
Kreuzschmerz ist in den meisten Fällen unspezifisch, d.h. es besteht kein Hinweis auf eine zu behandelnde, somatisch-pathologische Ursache. Spezifischer Kreuzschmerz kann einer bestimmten Entität zugeordnet werden. Man unterteilt hier in Wirbelsäulen-spezifische und extravertebragene Ursachen.
In den meisten Fällen kann keine Ursache für die Kreuzschmerzen gefunden werden!
Wirbelsäulen-spezifische Ursachen
Entzündlich-infektiös
- Entzündlich-rheumatische Erkrankungen, bspw. ankylosierende Spondylitis
- Spondylitis und Spondylodiszitis
- Spinaler Abszess: Epidural, extra- und intramedullär
Degenerativ
- Morbus Baastrup
- Bandscheibenvorfall
- Wirbelkörperfraktur
- Degenerative Spinalkanalstenose
- Segmentale Instabilität: Spondylolyse und Spondylolisthesis
- Lumbales Facettengelenkssyndrom
- Diskogenes Lumbalsyndrom bei Osteochondrosis vertebralis
Funktionell
Deformitäten der Wirbelsäule
Extravertebragene Ursachen
- Konsumierende Grunderkrankung: Malignome, Infektionserkrankungen
- Systemische Krankheiten: Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, Psoriasis-Arthritis, reaktive Arthritis
- Abdominelle und viszerale Prozesse: Pankreatitis, Cholezystitis, Myokardinfarkt, maligne Prozesse etc.
- Gefäßveränderungen: Aortendissektion, -aneurysma, spontane Subarachnoidalblutung etc.
- Gynäkologische Ursachen: (Rupturierte) Ovarialzyste, Endometriose etc.
- Urologische Ursachen: Urolithiasis, Pyelonephritis, Abszesse etc.
- Neurologische Ursachen: Herpes zoster (Gürtelrose) etc.
Diagnostik
Vorgehen bei Erstkontakt
- Ziel: Differenzierung von unspezifischen und spezifischen Kreuzschmerzen im Rahmen einer ausführlichen Diagnostik
- Ausschluss von Red Flags bei Rückenschmerz
- Evaluation von Risikofaktoren für eine Chronifizierung
- Ablauf
- Durchführung einer ausführlichen Anamnese und körperlichen Untersuchung
- Bei Hinweisen auf spezifische Ursachen und Red Flags bei Rückenschmerz: Einleitung einer spezifischen Diagnostik
- Einleitung erster Therapiemaßnahmen
- Anbindung des Patienten an eine weiterführende, individuelle Therapie
Um die Diagnose „unspezifischer Kreuzschmerz“ stellen zu können, ist eine ausführliche Anamnese und körperliche Untersuchung notwendig!
Obligate Diagnostik
Anamnese
- Schmerzanamnese
- Schmerzcharakter und -formen (siehe auch: Schmerztherapie)
- Lokalisation
- Verlauf
- Auslösende Faktoren
- Red Flags bei Rückenschmerz: Warnhinweise auf spezifische Ursachen mit dringlichem Behandlungsbedarf
- Risikofaktoren für eine Chronifizierung von Rückenschmerzen
- Für weitere Informationen siehe: Inhalt der Anamnese
Risikofaktoren für eine Chronifizierung von Rückenschmerzen
Yellow Flags bei Rückenschmerzen |
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Blue Flags bei Rückenschmerzen (Arbeitsplatzbezogene Risikofaktoren) |
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Körperliche Untersuchung
- Inspektion
- Allgemeinzustand des Patienten
- Körperliche Beeinträchtigungen und Deformitäten
- Haltung und Beckenstand
- Verletzungen , Entzündungszeichen , Zustand der Haut
- Palpation
- Klopf-, Druck- oder Kompressionsschmerz über den Dornfortsätzen
- Druckschmerz über der paravertebralen Muskulatur und begleitend betroffener Muskulatur
- Untersuchung angrenzender Gelenke (BWS: Brustkorb, Schulter; LWS: Iliosakralgelenk, Hüfte)
- Funktionsuntersuchung inkl. Erhebung des Neurostatus
- Sensibilitätsprüfung
- Kraft der Kennmuskeln
- Muskeleigenreflexe (siehe auch: Radikuläre Syndrome)
- Wurzeldehnungszeichen
- Für weitere Informationen siehe: Orthopädische Untersuchung der Wirbelsäule, orthopädische Untersuchung der Schulter, orthopädische Untersuchung der Hüfte und des Iliosakralgelenks
Bei nicht-spezifischem Kreuzschmerz unter sechs Wochen ohne „Red Flags“ soll eine Bildgebung nicht erfolgen. (DGIM - Klug entscheiden in der Rheumatologie)
Red Flags bei Rückenschmerz [3][4]
Red Flags mit sofortigem Handlungsbedarf bei Rückenschmerz
Red Flags mit sofortigem Handlungsbedarf bei Rückenschmerz | ||||||||
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Infektion | Radikulopathie | Neuropathie [5] | ||||||
Schmerz |
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Fieber | — |
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Weitere Symptome |
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Ursachen/Vorerkrankungen |
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Weitere Risikofaktoren |
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Legende: ✓ Häufig vorkommend, (✓) Gelegentlich vorkommend, — Nicht typisch |
Red Flags für einen abwendbar gefährlichen Verlauf bei Rückenschmerz
Red Flags für einen abwendbar gefährlichen Verlauf bei Rückenschmerz | |||||||||||
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Chronisch-entzündlicher Rückenschmerz | Tumor | ||||||||||
Schmerz |
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Fieber |
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Weitere Symptome |
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Ursachen/Vorerkrankungen | — |
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Weitere Risikofaktoren |
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Legende: ✓ Häufig vorkommend, (✓) Gelegentlich vorkommend, — Nicht typisch |
Weitere Informationen und Links finden sich bei den Wirbelsäulen-spezifischen Ursachen des Kreuzschmerzes!
Fakultative Diagnostik
Die fakultative Diagnostik sollte nur dann durchgeführt werden, wenn der Schmerz länger als 6 Wochen oder der Verdacht auf eine spezifische Ursache besteht. Die Wahl des Diagnostikverfahrens richtet sich dann nach der Verdachtsdiagnose. [3]
Labor
- Indikation: Bei V.a. infektiöse oder entzündliche intra- und extravertebragene Ursache des Kreuzschmerzes
- Parameter
- Kleines Blutbild: Zur ersten Übersicht bei V.a. Infektionen, maligne Prozesse etc.
- Ergänzend: Differenzialblutbild
- Klinische Chemie (bspw. Leber- und Nierenparameter, CRP, PCT): Zur Bestimmung von Entzündungsparametern oder bei V.a. extravertebragene Ursachen für den Kreuzschmerz
- Spezifische Labordiagnostik im Rahmen der Verdachtsdiagnose (bspw. Bestimmung von HLA-B27 bei V.a. Morbus Bechterew)
Bildgebung
- Röntgen
- Indikation: Bei V.a. Frakturen, entzündliche oder degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, maligne Genese, Z.n. Trauma
- Durchführung: Betroffener Wirbelsäulenabschnitt (BWS, thorakolumbaler Übergang, LWS, Iliosakralgelenk) in 2 Ebenen
- Bei traumatischer Genese: Ggf. zusätzlich Beckenübersicht, Thorax a.p.
- MRT
- Indikation: Bei V.a. Radikulo- oder Neuropathie, Spondylodiszitis, weitere entzündliche oder maligne extra- und intraspinale Veränderungen und raumfordernde Prozesse , Diskusprolaps
- Durchführung: Initial nativ, bei Pathologien oder V.a. infektiöse oder maligne Genese kann Kontrastmittel appliziert werden
- CT
- Indikation: Bei V.a. Spinalkanalstenose oder Spondylolisthesis, zur Ausweitung der konventionellen Röntgendiagnostik (bspw. bei Wirbelkörperfraktur oder Knochentumoren)
Klinik und Bildgebung müssen eng miteinander korrelieren! Ein bildmorphologischer Befund ohne passende Symptomatik reicht nicht zur Diagnosestellung aus!
Interventionelle Diagnostik
- Liquorpunktion: Bei V.a. entzündliche Prozesse im ZNS, zum Nachweis von Tumorzellen
- Infiltrationen: Periradikuläre Infiltration (PRT) bei Bandscheibenprolaps zur Abgrenzung von Schmerzen radikulärer oder peripherer Genese oder zur lokalen Schmerzstillung am Spinalnerv
Eine weiterführende Diagnostik wird nur dann empfohlen, wenn ein Hinweis auf eine spezifische Ursache für den Rückenschmerz besteht!
Therapie
Allgemeine Therapiemaßnahmen
- Therapieziel: Schmerzreduktion und Wiederherstellung der protektiven, statischen und dynamischen Funktion der Wirbelsäule
- Symptomatische Therapie: Medikamentöse und nicht-medikamentöse Schmerzreduktion
- Kausale Therapie: Behandlung und ggf. Beseitigung der Schmerzursache
Symptomatische Therapie
Bei unspezifischem Kreuzschmerz erfolgt eine rein symptomatische Therapie, da keine somatische Ursache bekannt und somit therapierbar ist. In aller Regel ist diese konservativ und sollte als multimodales Konzept mit dem Arzt in einer koordinierenden Funktion verstanden werden.
Allgemeine Maßnahmen
- Shared Decision Making: Arzt und Patient beschließen gemeinsam Therapieschritte und -ziele
- Realistische Zielsetzung unter Berücksichtigung der individuellen Möglichkeiten und der Belastbarkeit des Patienten
Nicht-medikamentöse Therapie
- Aufnahme bzw. Aufrechterhaltung der körperlichen Aktivität
- Ziel: Leistungssteigerung ohne Schmerzsteigerung
- Keine Bettruhe
- Einleitung einer Bewegungstherapie [4]
- Bei subakuten und chronischen Schmerzen: Evtl. Rehabilitationssport oder gezieltes Funktionstraining einleiten
- Edukative Maßnahmen: Patientenaufklärung und -schulung
- Supportive Maßnahmen: Bspw. progressive Muskelrelaxation, kognitive Verhaltenstherapie
Medikamentöse Therapie [3]
Die medikamentöse Schmerztherapie sollte als unterstützende Therapie zur Umsetzung der aktivierenden Maßnahmen gesehen werden.
Nicht-Opioid-Analgetika
- NSAR: In der niedrigsten effektiven Dosis über den kürzestmöglichen Zeitraum
- Ibuprofen
- Diclofenac retardiert
- Naproxen
- Celecoxib
- Bei Kontraindikation für NSAR
- Nicht angewendet werden sollten: Paracetamol, Flupirtin
Opioidanalgetika
- Indikation: Bei fehlendem Ansprechen auf Nicht-Opioid-Analgetika bzw. Kontraindikationen; unter regelmäßiger Reevaluation der Therapie
- Wirkstoffe: Bspw. Tramadol retardiert oder Oxycodon-Naloxon-Kombinationspräparate retardiert
- Bevorzugt: Kurzzeittherapie (bis max. 12 Wochen) mit oraler Applikation
- Beendigung der Therapie, wenn die Therapieziele innerhalb von 3 Monaten nicht erreicht werden konnten
Weitere medikamentöse Maßnahmen
- Bei bestehenden Risikofaktoren für gastrointestinale Komplikationen: Protonenpumpeninhibitoren, bspw. Pantoprazol oder Omeprazol
- Bei opioidinduzierter Übelkeit: Dimenhydrinat oder Ondansetron (Off-Label Use)
Differenzialdiagnosen
Spezifischer Kreuzschmerz ist auf eine feststellbare somatische Ursache zurückzuführen. Diese erfordert eine spezifische Diagnostik und anschließend ein individuelles Therapiekonzept. Im Folgenden werden beispielhaft einige Ursachen für spezifischen Kreuzschmerz erläutert. Weitere Informationen finden sich in den jeweiligen Kapiteln der Krankheitsbilder.
Wirbelsäulen-spezifische Ursachen des Kreuzschmerzes
Ursache | Symptome/Klinik | Diagnostik | Therapie |
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Wirbelkörperfraktur |
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Bandscheibenprolaps |
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Ankylosierende Spondylitis |
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Spinaler Abszess |
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Spondylitis und Spondylodiszitis |
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Degenerative Spinalkanalstenose |
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Lumbales Facettengelenkssyndrom |
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Diskogenes Lumbalsyndrom bei Osteochondrosis vertebralis |
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Spondylolyse und Spondylolisthesis |
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M. Baastrup |
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Morbus Scheuermann [9][10] |
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Myofasziale Dysfunktion |
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Hypomobile segmentale Dysfunktion der LWS |
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Prävention
Präventionsmaßnahmen des unspezifischen Kreuzschmerzes
- Regelmäßige körperliche Aktivität und Bewegung
- Patientenedukation
- Maßnahmen am Arbeitsplatz im Sinne einer Verhältnisprävention bzw. einer ergonomischen Arbeitsplatzgestaltung
Präventionsmaßnahmen des spezifischen Kreuzschmerzes
- Individuell je nach Ursache
- Häufig nur sekundär-präventive Maßnahmen möglich
- Bspw. rückengerechtes Lastenheben und -tragen zur Prävention eines Bandscheibenprolaps
- Bspw. forciertes Aufbautraining der Rücken- und Bauchmuskulatur (Rückenschule) bei hypomobiler Lendenwirbelsäule
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Patienteninformationen
- Rücken- und Kreuzschmerzen
- Akuter Kreuzschmerz
- Chronische Kreuzschmerzen
- Bewegung bei Kreuzschmerzen
- Bildgebung bei Kreuzschmerzen
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2023
- M54.-: Rückenschmerzen
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2023, DIMDI.