Abstract
Die frontotemporalen Demenzen (auch: Pick-Komplex-Demenzen) sind Unterformen der primären Demenzen, denen ein präseniler Beginn mit progressiver Hirnatrophie des Frontal- und Temporalhirns gemeinsam ist. Die häufigste Form ist die frontotemporale Demenz vom Verhaltenstyp (auch: M. Pick), welche sich typischerweise durch starke Wesensveränderungen mit unangepasstem Sozialverhalten äußert. Im Gegensatz zur Alzheimer-Demenz zeigen sich Gedächtnisstörungen erst im Verlauf. Eine wirksame Therapie gibt es nicht; die Krankheit endet häufig innerhalb von 10 Jahren tödlich.
Epidemiologie
Ätiologie
- Bisher ungeklärt!
- Gendefekte/Mutationen
- Bisher sind fünf verschiedene Genmutationen bekannt [2]
- Eine positive Familienanamnese zeigt sich in ca. 40% aller Fälle [3]
- Ca. 10% mit autosomal-dominantem Erbgang
- Unterschiedliche Stärke der Erblichkeit, abhängig von Unterform [3]
Klassifikation
Die frontotemporale Demenz wird in den Neurowissenschaften in vier verschiedene Prägnanztypen unterteilt. Sie unterscheiden sich in ihrer Symptomatik insbesondere im Frühstadium, können im späteren Krankheitsverlauf jedoch ineinander übergehen.
- Frontotemporale Demenz vom Verhaltenstyp (behaviorale Variante, bvFTD, Pick-Syndrom): Haupttyp
- Primär-progressive Aphasie (PPA), mit weiteren Subtypen: Führende Symptome sind Sprachstörungen
- Nicht-flüssige, agrammatische Aphasie (nf-avPPA, mit Paraphasie und Mutismus im Endstadium): Sprechapraxie mit Verlust der Fähigkeit zum normalen Satzbau
- Semantische PPA (svPPA): Benennen von Dingen und Wortverständnis sind gestört
- Logopenische PPA (lvPPA): Wortfindungsstörungen, Fähigkeit zum Nachsprechen gestört
- Semantische Demenz
- Kombinierte Form einer frontotemporalen Demenz mit einer motorischen Störung
Symptome/Klinik
Allgemein
- Verlauf
- Beginn zwischen 40. und 60. Lebensjahr
- Kognitive Defizite erst im Verlauf
- Frontotemporale Demenz vom Verhaltenstyp: Wesensveränderungen mit Verlust von Manieren und gestörtem Sozialverhalten (wie Enthemmung und Aggression) stehen im Vordergrund
- Primär-progressive Aphasie: Ausgeprägte Sprachstörungen mit zunehmender Aphasie sind das Hauptsymptom
Frontotemporale Demenz vom Verhaltenstyp (bvFTD)
- Positivsymptome
- Antrieb und Psychomotorik gesteigert
- Aggression, Reizbarkeit
- Euphorie
- Sexuelle Enthemmung
- Distanzlosigkeit, Verlust von Manieren
- Übersteigerte Nahrungsaufnahme, verstärkter Alkohol- und Nikotinkonsum
- Negativsymptome
- Antriebsmangel, Apathie
- Sozialer Rückzug
- Abflachen der Stimmung
- Verlust von Empathiefähigkeit
- Kognitive Symptome
- Gedächtnis zunächst erhalten, im Endstadium aber auch ausgeprägte Lang- und Kurzzeitgedächtnisstörungen
- Aufmerksamkeitsstörung
- Handlungsplanungsstörungen
- Neurologische Symptome
- Pathologische Greifreflexe von Hand und Mund
- Akinetisches Parkinson-Syndrom (Endstadium)
Bei der frontotemporalen Demenz vom Verhaltenstyp (M. Pick) kommt es klassischerweise zunächst zum Verlust der Manieren, die Gedächtnisfunktionen bleiben anfangs erhalten!
Primär-progressive Aphasie (PPA)
- Langsam progrediente Aphasie
- Paraphasien
- Agrammatische Satzbildung
- Einzelwortverständnis lange intakt
- Persönlichkeit, Gedächtnis und Orientierung zunächst intakt (im späten Stadium sind auch hier Störungen häufig)
Diagnostik
Diagnosestellung
- Die Kriterien eines Demenzsyndroms müssen vorliegen (siehe: Diagnostik des Demenzsyndroms)
- Zusätzlich müssen folgende Kriterien erfüllt sein
- Überwiegen der Frontalhirnsymptomatik im klinischen Bild
- Verhaltensstörungen bzw. (bei der aphasischen Variante) Sprachstörungen gehen offensichtlichen Gedächtnisstörungen gewöhnlich voraus
Spezifische Diagnostik und Befunde der frontotemporalen Demenz
- Anamnese
- Typische Frontalhirnsymptome (siehe: Klinik der frontotemporalen Demenz)
- Familienanamnese häufig positiv
- Neurologische Untersuchung
- Ggf. Hyperoralität mit Schmatz- und/oder Saugbewegungen
- Ggf. bei fortgeschrittenem Verlauf: Parkinson-Syndrom
- Neuropsychologische Testung
- MMST bei anfänglich oft noch gut erhaltenem Gedächtnis nicht geeignet
- Behaviorale Variante: Insb. Prüfung von Exekutivfunktionen und geistiger Flexibilität sinnvoll
- Aphasische Variante: Insb. Prüfung der Wortflüssigkeit sinnvoll
- Psychopathologische Befundung
- Verhaltenstyp (M.Pick): Typische Wesensveränderungen (siehe: Klinik der frontotemporalen Demenz)
- CT/MRT
- Asymmetrische Frontal- und Temporallappenatrophie
- Hirnvolumenminderung, dadurch auch Hydrocephalus e vacuo
- EEG: Oft auffallend normal
Pathologie
- Makroskopisch
- Oft asymmetrische Atrophie von Temporal- und/oder Frontalhirn
- Hirnvolumenminderung mit „Walnussrelief“
- Histologisch: Nachweis von Pick-Körperchen (in den überlebenden Neuronen)
- Argentophile (d.h. mit Silber anfärbbare), eosinophile intrazelluläre Einschlusskörperchen innerhalb von geschwollenen Nervenzellen
- Bestehen aus unterschiedlichen Filamenten (insb. Tau-Protein)
Differenzialdiagnosen
- Schizophrenie
- Depression
- Andere Demenzformen
-
Alzheimer-Demenz
- Bei den frontotemporalen Demenzen stehen im Gegensatz zu der Alzheimer-Demenz nicht die kognitiven Störungen, sondern Verhaltens- oder Sprachstörungen im Vordergrund
- Die frontotemporalen Demenzen zeigen keine visuokonstruktiven Defizite, wie sie bei der Alzheimer-Demenz typisch sind
- Vaskuläre Demenz
- Lewy-Body-Demenz
-
Alzheimer-Demenz
- Chorea Huntington
- Creutzfeldt-Jakob-Krankheit
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Allgemeine Therapieempfehlungen bei Demenz
- Siehe
- Demenztherapie
- Schutz der Gesundheit Angehöriger von Demenzpatienten
- Sozialrechtliche Fragestellungen
Spezifische Therapieempfehlungen bei frontotemporaler Demenz
- Keine kausale Therapie bekannt
- Keine Therapie mit Antidementiva: Unwirksam!
- Bevorzugt sollten supportive, nicht-medikamentöse Behandlungsoptionen genutzt werden [4]
- Häufig besonders hohe Belastung von Angehörigen durch Persönlichkeitsveränderungen mit Aggression und Enthemmung
Prognose
- Lebenserwartung stark eingeschränkt
- Viele Patienten versterben innerhalb von 10 Jahren an einem Infekt infolge zunehmender Pflegebedürftigkeit und Kachexie
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2023
- F02.-*: Demenz bei anderenorts klassifizierten Krankheiten
- F02.0*: Demenz bei Pick-Krankheit (G31.0†)
- G31.-: Sonstige degenerative Krankheiten des Nervensystems, anderenorts nicht klassifiziert
- Exklusive: Reye-Syndrom (G93.7)
- G31.0: Umschriebene Hirnatrophie
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2023, DIMDI.