Abstract
Wenn von einer fokalen Epilepsie gesprochen wird, dann ist damit gemeint, dass sich das Geschehen auf einen Fokus konzentriert (im Gegensatz zur generalisierten Epilepsie, die das gesamte Großhirn erfasst). Die Identifizierung einer zugrundeliegenden Ursache unterscheidet dabei idiopathische von symptomatischen Epilepsien. Je nach Lokalisation des Geschehens ergeben sich mehr oder weniger typische Symptomatiken. Bei der Temporallappenepilepsie handelt es sich um die häufigste fokale Epilepsie. Pathomorphologisches Korrelat ist meist eine Sklerosierung des Ammonshorns (eine Struktur im Hippocampus). Auch fokale Epilepsien können mit Bewusstseinsstörungen einhergehen (= komplex-fokal) und sekundär generalisieren. Die Einteilung der lokalisationsbezogenen Epilepsien und Syndrome in diesem Kapitel folgt der Klassifikation der ILAE.
Eine generelle Übersicht gibt das Kapitel Epileptische Anfälle und Epilepsien.
Idiopathische fokale Epilepsien mit altersgebundenem Beginn
Rolando-Epilepsie
- Definition: Benigne Epilepsie des Kindesalters mit zentrotemporalen Spikes
- Epidemiologie
- Häufigste Epilepsie des Kindesalters (ca. 15%) [1]
- Altersgipfel: 5.–9. Lebensjahr
- Klinik
- Meist schlafgebundene Anfälle mit tonischen Gesichtskrämpfen, vermehrter Salivation und Sprachunfähigkeit während des Anfalls und häufig auch postiktal
- Interiktal können milde und temporäre kognitive Teilleistungsstörungen bestehen [2][3]
- Selten Auftreten im Wachzustand
- Anfälle des Armes oder einer ganzen Körperhälfte sowie eine sekundäre Generalisation sind möglich
- EEG: Fokale zentrotemporale Spikes und Sharp Waves
- Prognose: Heilt i.d.R. mit Erreichen der Pubertät ohne Residuen aus [1][2]
- Therapie: Medikamentöse Therapie i.d.R. bei ≥2 Anfällen pro Halbjahr: Sultiam [3][4]
Seltene idiopathische, fokale Epilepsien [1]
- Epilepsie des Kindesalters mit okzipitalen Paroxysmen
- Klinik: Anfall zunächst mit visuellen, dann mit motorischen und psychomotorischen Symptomen
- Autosomal-dominante nächtliche Frontallappenepilepsie und familiäre Temporallappenepilepsie [5]
- Epidemiologie und Verlauf: Sehr selten, beginnen in der Adoleszenz und sind meist auch im Erwachsenenalter therapiebedürftig
- Klinik: Einfach-fokale motorische Anfälle aus dem Schlaf heraus
Symptomatische fokale Epilepsien
Häufigste Ursachen fokaler Epilepsien
- Im Kindesalter: Perinatale Hirnschädigungen
- Adoleszenz: Enzephalitis und Hirntrauma
- Erwachsene mittleren Alters: Hirntumoren
- Erwachsene hohen Alters: Vaskuläre Enzephalopathien und Demenzen
Temporallappenepilepsie [5][6]
- Synonyme: Mesiobasal-limbische/rhinenzephale/psychomotorische Epilepsie
- Epidemiologie: Häufigste Epilepsieform (ca. 40% aller Epilepsien, ca. 70% der fokalen Epilepsien)
- Ursache
-
Hippokampussklerose (Ammonshornsklerose)
- Auffälligkeiten des Hippocampus im MRT (meist einseitig): Hyperintensität in der T2-Wichtung, Atrophie, verwaschene Binnenstruktur
- Meist im "Sommer-Sektor" (CA1-Segment) der Ammonshörner
- Findet sich bei 70% der Patienten mit pharmakoresistenter Temporallappenepilepsie
- Enzephalitis, Entwicklungsstörung, neurodegenerative Erkrankungen, Tumoren
-
Hippokampussklerose (Ammonshornsklerose)
- Klinik
- Anfälle treten meist gruppiert auf und haben folgenden Ablauf
- Zunächst Aura
-
Dann komplex-fokale Anfälle mit motorischen Symptomen (typisch sind oro-alimentäre Automatismen (z.B. Schmatzen), aber auch Nesteln, sich Strecken und Treten auf der Stelle), vegetativen Symptomen , und Bewusstseinsveränderung
- Seltener auch Geruchs- und Geschmacksmissempfindungen oder Aphasie
- Sekundäre Generalisierung möglich
- Postiktale Reorientierungsphase mit Amnesie für das Anfallsgeschehen
- Interiktal kommt es teilw. zur Beeinträchtigung des limbischen Systems und des Gedächtnisses
- Anfälle treten meist gruppiert auf und haben folgenden Ablauf
- Prognose: Ungünstig, 40% Anfallsfreiheit unter medikamentöser Therapie
- Therapie: Lamotrigin, Levetiracetam, bei Pharmakoresistenz ggf. OP (→ siehe Therapie der Epilepsien)
Frontallappenepilepsie
- Epidemiologie: 10% der fokalen Epilepsien
- Ursache: Siehe Ursachen fokaler Epilepsien
- Klinik: Vielgestaltig, je nach betroffenem Gebiet innerhalb des Frontallappens
- Häufig mit Aura als erstem Symptom
-
Meist einfach-fokale Anfälle mit verschiedenen motorischen Symptomen: Tonisierung , Vokalisation, Blick- oder Kopfwendung zur gesunden Seite (vom epileptischen Herd weg)
- Kann auch mit vegetativen Symptomen (Enuresis, Speichelfluss), Sprachhemmung und Aufmerksamkeitsstörungen (Pseudo-Absencen) einhergehen
- I.d.R. nur geringe postiktale Verwirrtheit
- Meist kurze Anfälle (≤30 s) in Serie und häufig aus dem Schlaf heraus
- Bei Beteiligung des motorischen Kortex sind ein march of convulsion und postiktal Todd'sche Paresen möglich
- Häufig sekundäre Generalisierung
- Subtyp: Motorischer Jackson-Anfall
- Tonische bzw. klonische Zuckungen, die sich von einer Körperregion auf benachbarte Bezirke ausbreiten (sog. march of convulsion)
- Häufig Todd'sche Parese: Vorübergehende postiktale Lähmungen im Anfall betroffener Muskelgruppen, lässt häufig Folgerung auf den Anfallsursprung zu
Geht ein fokaler, epileptischer Anfall mit einem march of convulsion einher, nennt man ihn unabhängig von seinem Ursprung Jackson-Anfall!
Parietallappenepilepsie [5]
- Epidemiologie: Selten
- Ursache: Siehe Ursachen fokaler Epilepsien
- Klinik
- Einfach-fokale Anfälle mit sensiblen Symptomen (z.B. Parästhesien, Schmerzen), Dyslexie, Störungen des Sprachverständnisses
- Ausbreitung der Symptome im Sinne eines march of convulsion möglich (sensibler Jackson-Anfall)
- Übergang in temporale und frontale Anfälle mit den jeweiligen Symptomen möglich
- Einfach-fokale Anfälle mit sensiblen Symptomen (z.B. Parästhesien, Schmerzen), Dyslexie, Störungen des Sprachverständnisses
Okzipitallappenepilepsie [2]
- Epidemiologie: Selten
- Ursache: Siehe Ursachen fokaler Epilepsien
- Klinik
- Einfach-fokaler Anfall häufig mit visuellen Phänomenen oder Ausfallsymptomen
- Häufig Übergang in temporale und frontale Anfälle
- Generalisierung möglich
Alle symptomatischen, fokalen Epilepsien sollten i.d.R. mit Lamotrigin oder Levetiracetam behandelt werden!
Epilepsia partialis continua (Kojevnikov)
- Ursache: Meist kortikale Schädigung/Läsion (z.B. Narbe, Enzephalitis, Tumor)
- Klinik: Klonische Zuckungen einer umschriebenen Körperregion ("partialis"), z.B. des Mundes oder eines Fingers über mehrere Tage ("continua")
- Gewissermaßen "fokaler Status epilepticus"
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2023
- G40.-: Epilepsie
- Exklusive: Anfall o.n.A.(R56.8), Krampfanfall o.n.A. (R56.8), Landau-Kleffner-Syndrom (F80.3), Status epilepticus (G41.‑), Todd-Paralyse (G83.8)
- G40.0-: Lokalisationsbezogene (fokale) (partielle) idiopathische Epilepsie und epileptische Syndrome mit fokal beginnenden Anfällen
- G40.00: Pseudo-Lennox-Syndrom
- Gutartige atypische Epilepsie
- G40.01: CSWS [Continuous spikes and waves during slow-wave sleep]
- Bioelektrischer Status epilepticus im Schlaf
- ESES [Electrical status epilepticus during slow-wave sleep]
- G40.02: Benigne psychomotorische Epilepsie [terror fits]
- Benigne Partialepilepsie mit affektiver Symptomatik
- G40.08: Sonstige lokalisationsbezogene (fokale) (partielle) idiopathische Epilepsie und epileptische Syndrome mit fokal beginnenden Anfällen
- Benigne Epilepsie im Säuglingsalter [Watanabe]
- Benigne Epilepsie mit occipitalen Paroxysmen
- Benigne Epilepsie mit zentrotemporalen Spikes [Rolando]
- Benigne Säuglingsepilepsie mit komplex-fokalen Anfällen
- G40.09: Lokalisationsbezogene (fokale) (partielle) idiopathische Epilepsie und epileptische Syndrome mit fokal beginnenden Anfällen, nicht näher bezeichnet
- G40.00: Pseudo-Lennox-Syndrom
- G40.1: Lokalisationsbezogene (fokale) (partielle) symptomatische Epilepsie und epileptische Syndrome mit einfachen fokalen Anfällen
- Anfälle ohne Störung des Bewusstseins
- Einfache fokale Anfälle mit Entwicklung zu sekundär generalisierten Anfällen
- G40.2: Lokalisationsbezogene (fokale) (partielle) symptomatische Epilepsie und epileptische Syndrome mit komplexen fokalen Anfällen
- Anfälle mit Störungen des Bewusstseins, meist mit Automatismen
- Komplexe fokale Anfälle mit Entwicklung zu sekundär generalisierten Anfällen
- G40.3: Generalisierte idiopathische Epilepsie und epileptische Syndrome
- Absencen-Epilepsie des Kindesalters [Pyknolepsie]
- Grand-Mal-Aufwachepilepsie
- Gutartige: myoklonische Epilepsie des Kleinkindalters, Neugeborenenkrämpfe (familiär)
- Juvenile: Absencen-Epilepsie, myoklonische Epilepsie [Impulsiv-Petit-Mal]
- Unspezifische epileptische Anfälle: atonisch, klonisch, myoklonisch, tonisch, tonisch-klonisch
- G40.4: Sonstige generalisierte Epilepsie und epileptische Syndrome
- Blitz-Nick-Salaam-Krämpfe
- Epilepsie mit: myoklonisch-astatischen Anfällen, myoklonischen Absencen
- Frühe myoklonische Enzephalopathie (symptomatisch) Lennox-Syndrom
- West-Syndrom
- G40.5: Spezielle epileptische Syndrome
- Epilepsia partialis continua [Kojewnikow-Syndrom]
-
Epileptische Anfälle im Zusammenhang mit:
- Alkohol, Arzneimittel oder Drogen , hormonellen Veränderungen Schlafentzug, Stress
- G40.6: Grand-Mal-Anfälle, nicht näher bezeichnet (mit oder ohne Petit-Mal)
- G40.7: Petit-Mal-Anfälle, nicht näher bezeichnet, ohne Grand-Mal-Anfälle
- G40.8: Sonstige Epilepsien
- Epilepsien und epileptische Syndrome, unbestimmt, ob fokal oder generalisiert
- G40.9: Epilepsie, nicht näher bezeichnet
- Epileptische: Anfälle o.n.A., Konvulsionen o.n.A.
- G41.-: Status epilepticus
- G41.0: Grand-Mal-Status
- Status mit tonisch-klonischen Anfällen
- Exklusive: Epilepsia partialis continua [Kojewnikow-Syndrom] (G40.5)
- G41.1: Petit-Mal-Status
- Absencenstatus
- G41.2: Status epilepticus mit komplexfokalen Anfällen
- G41.8: Sonstiger Status epilepticus
- G41.9: Status epilepticus, nicht näher bezeichnet
- G41.0: Grand-Mal-Status
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2023, DIMDI.