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Fetale Alkoholspektrumstörung

Letzte Aktualisierung: 31.10.2023

Abstracttoggle arrow icon

Mütterlicher Alkoholkonsum während der Schwangerschaft kann zu Zelltod und Entwicklungsstörungen der Organe beim Kind führen. Besonders vulnerabel ist das Gehirn des Ungeborenen. Die pränatale alkoholtoxische Gehirnschädigung ist irreparabel und geht mit einer chronischen Behinderung einher. Die aus pränataler Alkoholexposition resultierende Erkrankung wird unter dem Begriff Fetale Alkoholspektrumstörung (FASD) zusammengefasst. Hierzu zählen die drei Formen: Fetales Alkoholsyndrom (FAS), partielles Fetales Alkoholsyndrom (pFAS) und alkoholbedingte entwicklungsneurologische Störung (ARND).

Statistischen Schätzungen zufolge ist die FASD eine der häufigsten angeborenen chronischen Erkrankungen in Deutschland (177 Fälle pro 10.000 Neugeborene). Eine vollständige Alkoholabstinenz während der Schwangerschaft verhindert die Erkrankung. Dennoch ergeben Daten einer Studie des RKI, dass etwa ein Drittel aller schwangeren Frauen Alkohol konsumiert. Für den deutschsprachigen Raum liegt eine evidenz- und konsensbasierte S3-Leitlinie zur Diagnose von Fetalen Alkoholspektrumstörungen bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 0 bis <18 Jahren vor. Sie dient der Einteilung der einzelnen Störungsbilder anhand von vier diagnostischen Säulen: Wachstumsauffälligkeiten, faziale Auffälligkeiten, ZNS-Auffälligkeiten und pränatale Alkoholexposition.

Dieses Kapitel ist im Rahmen einer Kooperation zwischen AMBOSS und dem integrierten Sozialpädiatrischen Zentrum (iSPZ) im Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) entstanden. Beteiligte Autor:innen: Markovic A, Heinen F, Landgraf MN

Einteilungtoggle arrow icon

Zur Differenzierung der einzelnen Formen siehe: Diagnosekriterien der FASD!

Epidemiologietoggle arrow icon

Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.

Ätiologietoggle arrow icon

  • Risikofaktoren für mütterlichen Alkoholkonsum während der Schwangerschaft [4]
  • Risikofaktoren für die Entstehung einer FASD [4]
    • Höheres Alter (>30 Jahre)
    • Geringer sozioökonomischer Status
    • African Americans und Native Indians
    • Genetische Faktoren
    • Mangelernährung
    • Geburtshilfliche Komplikationen
    • Alkoholkonsum während der gesamten Schwangerschaft
    • Hoher und/oder chronischer Alkoholkonsum
    • Konsum verschiedener Drogen

Pathophysiologietoggle arrow icon

Die fetale Enzymfunktion und -konzentration ist im Vergleich zu Erwachsenen deutlich geringer!

Ethanol wird ungehindert von der Schwangeren auf das ungeborene Kind übertragen!

Symptome/Kliniktoggle arrow icon

Die klinischen Auffälligkeiten einer FASD lassen sich in Wachstumsauffälligkeiten, faziale Auffälligkeiten und ZNS-Auffälligkeiten unterteilen. Zusammen mit der pränatalen Alkoholexposition bilden sie die vier diagnostischen Säulen der S3-Leitlinie FASD. Die einzelnen Kriterien dienen der Diagnose und Differenzierung der verschiedenen Formen der Fetalen Alkoholspektrumstörung. Zur Diagnosestellung siehe: Diagnosekriterien der FASD. [4]

Wachstumsauffälligkeiten

Faziale Auffälligkeiten

Kurze Lidspaltenlänge, schmale Oberlippe und verstrichenes Philtrum sind die wegweisenden Merkmale eines Fetalen Alkoholsyndroms (FAS)!

ZNS-Auffälligkeiten

Fast alle Kinder mit FASD weisen Störungen der Exekutivfunktionen auf!

Diagnostiktoggle arrow icon

Für eine möglichst frühzeitige und adäquate Diagnostik ist bei V.a. FASD eine Überweisung an ein interdisziplinäres Zentrum sinnvoll (z.B. Sozialpädiatrisches Zentrum oder Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie). [4][14]

Mögliche Vorstellungsgründe

  • Entwicklungsstörungen
  • Kognitive Beeinträchtigungen, Schwierigkeiten in der Schule
  • Verhaltensauffälligkeiten, geringe Frustrationstoleranz
  • Kein altersadäquates Erledigen von Alltagsaufgaben, Unselbstständigkeit
  • Bekannte pränatale Alkohol- und/oder Drogenexposition

Anamnese

Klinische Untersuchung

Neuropsychologische Untersuchung

  • Verhaltensbeobachtung
  • Spezifische Tests und Fragebögen für die Bereiche
    • Entwicklung
    • Intelligenz
    • Sprache
    • Räumlich-visuelle Wahrnehmung oder räumlich-konstruktive Fähigkeiten
    • Lern- oder Merkfähigkeit
    • Exekutivfunktionen
    • Rechenfertigkeiten
    • Aufmerksamkeit
    • Soziale Fertigkeiten oder Verhalten

Diagnosestellung [4]

Die Unterformen der FASD werden anhand klinischer Kriterien der vier diagnostischen Säulen (Wachstumsauffälligkeiten, faziale Auffälligkeiten, ZNS-Auffälligkeiten, pränatale Alkoholexposition) diagnostiziert. Siehe auch: Symptome der FASD.

Diagnosekriterien der Fetalen Alkoholspektrumstörungen (FASD)
Diagnose Wachstumsauffälligkeiten Faziale Auffälligkeiten ZNS-Auffälligkeiten Pränatale Alkoholexposition

Fetales Alkoholsyndrom (FAS)

  • Mind. 1 Kriterium erfüllt
  • Alle 3 Kriterien erfüllt
  • Mikrozephalie und/oder
  • Globale Intelligenzminderung oder signifikante kombinierte Entwicklungsverzögerung bei Kindern <2 Jahren und/oder
  • Signifikante Beeinträchtigung in mind. 3 Bereichen (bei Epilepsie mind. 2 Bereiche)
  • Muss nicht bestätigt oder wahrscheinlich sein
Partielles Fetales Alkoholsyndrom (pFAS)
  • Kein Kriterium notwendig
  • Mind. 2 Kriterien erfüllt
  • Mind. 3 Kriterien erfüllt
  • Muss nicht bestätigt, aber mind. wahrscheinlich sein
Alkoholbedingte entwicklungsneurologische Störung (ARND)
  • Kein Kriterium notwendig
  • Kein Kriterium notwendig
  • Mind. 3 Kriterien erfüllt
  • Muss bestätigt sein

Für die Diagnose FAS muss der pränatale Alkoholkonsum nicht bestätigt sein!

Differenzialdiagnosentoggle arrow icon

Bei Wachstumsauffälligkeiten [4]

Bei fazialen Auffälligkeiten [4]

Bei ZNS-Auffälligkeiten [4]

AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Therapietoggle arrow icon

Da der FASD eine alkoholtoxische und biologisch irreparable Gehirnschädigung zugrunde liegt, ist eine Kausaltherapie nicht möglich. Um eine möglichst gute Alltagsfunktionalität und Lebensqualität zu erreichen, sollte hauptsächlich funktionell therapiert werden. Unterstützend kann eine medikamentöse Behandlung erwogen werden.

Funktionell [15][16][17][18][19][20]

Medikamentös [21]

Prognosetoggle arrow icon

Persistenz der Symptome

Aufgrund der irreversiblen gehirntoxischen Schädigung können Defizite bis ans Lebensende persistieren.

Persistierende Symptome und Auffälligkeiten der Fetalen Alkoholspektrumstörung
Wachstumsauffälligkeiten [22]
Faziale Auffälligkeiten [22]
  • Schmale Oberlippe (ca. 92%)
  • Flaches Mittelgesicht (ca. 46%)
ZNS-Auffälligkeiten [22][23]
  • Strukturell: Mikrozephalie (ca. 49%)
  • Funktionell
    • Sehr häufig Beeinträchtigung der Exekutivfunktionen
    • Reduzierte Aufmerksamkeit
    • Störungen des Verhaltens und der Kognition
    • Intelligenzminderung
    • Schulbildung und Arbeit
      • Häufig Förderschule
      • Meist keine abgeschlossene Berufsausbildung und keine langfristige Beschäftigung (ca. 86%)
    • Eingeschränkte Selbstständigkeit (ca. 70%)
Psychische Auffälligkeiten [24][25][26]

Ca. 70% aller Erwachsenen mit FASD sind im Alltag auf Hilfe angewiesen!

Protektive Faktoren [1][27]

  • Frühe Diagnose (<6 Jahren)
  • Stabiles, förderndes Umfeld
  • Gewaltfreie Kindheit

Präventiontoggle arrow icon

Ziel der präventiven Maßnahmen ist die Vermeidung der FASD durch möglichst vollständige Alkoholabstinenz während der gesamten Schwangerschaft.

Universelle Prävention [28]

  • Zielgruppe: Gesamte Bevölkerung
  • Maßnahme: Aufklärung über Alkoholkonsum und die FASD
  • Beispiele
    • Pädagogische Projekte an Schulen
    • Öffentliche Ausstellungen
    • Hinweise auf alkoholischen Getränken
    • Aufklärungskampagnen, die sich insb. an Schwangere richten
  • Projekte siehe: Tipps & Links

Universelle Prävention soll möglichst viele Menschen dazu befähigen, das Risiko für eine FASD durch Alkoholabstinenz während der Schwangerschaft zu vermeiden!

Selektive und indizierte Prävention [28]

Selektive und indizierte Prävention setzen die Identifikation von Risikofaktoren voraus (siehe: Ätiologie der FASD)!

Kodierung nach ICD-10-GM Version 2023toggle arrow icon

Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2023, DIMDI.

Quellentoggle arrow icon

  1. Kraus et al.:Quantifying harms to others due to alcohol consumption in Germany: a register-based studyIn: BMC Medicine. Band: 17, Nummer: 1, 2019, doi: 10.1186/s12916-019-1290-0 . | Open in Read by QxMD.
  2. May et al.:Epidemiology of FASD in a Province in Italy: Prevalence and Characteristics of Children in a Random Sample of SchoolsIn: Alcoholism: Clinical and Experimental Research. Band: 30, Nummer: 9, 2006, doi: 10.1111/j.1530-0277.2006.00188.x . | Open in Read by QxMD p. 1562-1575.
  3. May et al.:Prevalence of Children with Severe Fetal Alcohol Spectrum Disorders in Communities Near Rome, Italy: New Estimated Rates Are Higher than Previous EstimatesIn: International Journal of Environmental Research and Public Health. Band: 8, Nummer: 6, 2011, doi: 10.3390/ijerph8062331 . | Open in Read by QxMD p. 2331-2351.
  4. Diagnose der Fetalen Alkoholspektrumstörungen FASD.Stand: 1. Februar 2016. Abgerufen am: 7. Februar 2023.
  5. Clarren et al.:Normal distribution of palpebral fissure lengths in Canadian school age children.In: The Canadian journal of clinical pharmacology = Journal canadien de pharmacologie clinique. Band: 17, Nummer: 1, p. e67-78.
  6. Strömland et al.:Reference values of facial features in Scandinavian children measured with a range-camera techniqueIn: Scandinavian Journal of Plastic and Reconstructive Surgery and Hand Surgery. Band: 33, Nummer: 1, 1999, doi: 10.1080/02844319950159631 . | Open in Read by QxMD p. 59-65.
  7. Lip-Philtrum Guides.. Abgerufen am: 24. April 2023.
  8. Astley, Clarren:A case definition and photographic screening tool for the facial phenotype of fetal alcohol syndromeIn: The Journal of Pediatrics. Band: 129, Nummer: 1, 1996, doi: 10.1016/s0022-3476(96)70187-7 . | Open in Read by QxMD p. 33-41.
  9. Landgraf et al.:Fetale Alkoholspektrumstörungen – Diagnose, neuropsychologische Testung und symptomorientierte FörderungIn: Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Band: 45, Nummer: 2, 2017, doi: 10.1024/1422-4917/a000444 . | Open in Read by QxMD p. 104-117.
  10. Bertrand:Interventions for children with fetal alcohol spectrum disorders (FASDs): Overview of findings for five innovative research projectsIn: Research in Developmental Disabilities. Band: 30, Nummer: 5, 2009, doi: 10.1016/j.ridd.2009.02.003 . | Open in Read by QxMD p. 986-1006.
  11. Diagnostik der FASD.Stand: 1. Januar 2023. Abgerufen am: 23. Februar 2023.
  12. Rassow et al.: Duale Reihe Biochemie. 5. Auflage Thieme 2022, ISBN: 978-3-132-20013-5.
  13. Ehrhart et al.:Review and gap analysis: molecular pathways leading to fetal alcohol spectrum disordersIn: Molecular Psychiatry. Band: 24, Nummer: 1, 2018, doi: 10.1038/s41380-018-0095-4 . | Open in Read by QxMD p. 10-17.
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  15. Wilhoit et al.:Fetal Alcohol Spectrum Disorders: Characteristics, Complications, and TreatmentIn: Community Mental Health Journal. Band: 53, Nummer: 6, 2017, doi: 10.1007/s10597-017-0104-0 . | Open in Read by QxMD p. 711-718.
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  22. Michalowski et al.: FASD – eine Herausforderung!. Schulz-Kirchner Verlag GmbH 2016, ISBN: 978-3-824-81201-1.
  23. Spohr, Steinhausen:Fetal Alcohol Spectrum Disorders and Their Persisting Sequelae in Adult LifeIn: Deutsches Ärzteblatt international. 2008, doi: 10.3238/arztebl.2008.0693 . | Open in Read by QxMD.
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  26. O'Connor et al.:Suicide risk in adolescents with fetal alcohol spectrum disorders.In: Birth defects research. Band: 111, Nummer: 12, 2019, doi: 10.1002/bdr2.1465 . | Open in Read by QxMD p. 822-828.
  27. Understanding the Occurrence of Secondary Disabilities in Clients with Fetal Alcohol Syndrome (FAS) and Fetal Alcohol Effects (FAE).
  28. Prävention der FASD.Stand: 1. Januar 2023. Abgerufen am: 9. Februar 2023.

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