ambossIconambossIcon

Artifizielle Störungen

Letzte Aktualisierung: 13.12.2024

Zusammenfassungtoggle arrow icon

Bei der artifiziellen Störung fallen Betroffene durch wissentliches Erzeugen oder Vortäuschen körperlicher und/oder psychischer Symptome auf. Die Symptombildung erfolgt überwiegend absichtlich, wobei keine bewusste Motivation besteht. Werden Krankheitssymptome bei Kindern vorgetäuscht/induziert, spricht man vom Münchhausen-by-proxy-Syndrom, das als medizinische Kindesmisshandlung im Kapitel Kinderschutzmedizin aufgeführt wird.

Icon of a lock

Anmelden oder Einloggen , um den ganzen Artikel zu lesen.

Definitiontoggle arrow icon

  • Artifizielle Störung: Heimliches und absichtliches Erzeugen, Vortäuschen oder Verschlimmern somatischer und/oder psychischer Symptome bei sich selbst oder anderen
  • Subtypen
    • Münchhausen-Syndrom : Artifizielle Störung mit fantasievollem Ausschmücken von Biografie und Krankheitsberichten (Pseudologia phantastica) [1][2]
    • Münchhausen-by-proxy-Syndrom: Artifizielle Störung mit gezielter Manipulation Schutzbefohlener (i.d.R. Kinder )
    • Münchhausen-by-adult-proxy-Syndrom: Artifizielle Störung mit gezielter Manipulation eines Erwachsenen [2]
    • Münchhausen-by-Internet-Syndrom: Artifizielle Störung mit manipulativer Vortäuschung schwerer Erkrankungen oder besonderer Krankheitsverläufe im Internet [1]

Da der Begriff „Münchhausen-Syndrom“ die Schwere der Erkrankung nur unzureichend erfasst und gleichzeitig zu einer Stigmatisierung führen kann, wird er in der Fachliteratur mittlerweile kritisch bewertet!

Icon of a lock

Anmelden oder Einloggen , um den ganzen Artikel zu lesen.

Epidemiologietoggle arrow icon

Es liegen kaum empirisch gesicherte Daten zur Häufigkeit artifizieller Störungen vor, von einer hohen Dunkelziffer wird ausgegangen. [3]

Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.

Icon of a lock

Anmelden oder Einloggen , um den ganzen Artikel zu lesen.

Ätiologietoggle arrow icon

Die Ursache der artifiziellen Störung ist bisher nicht hinreichend geklärt und am ehesten multifaktoriell bedingt. Es existieren verschiedene Erklärungsansätze, denen meist eine maladaptive Bewältigung traumatischer Erfahrungen in frühen Entwicklungsphasen zugrunde liegt. [2][3]

  • Psychodynamische Ansätze
    • Frühe traumatische Erfahrungen führen zu Störung der Körperidentität , mangelnder Selbstwertregulierung und zwischenmenschlichen Defiziten
    • Erneute Stressoren (bspw. interpersonelle Konflikte) lösen artifizielle Störung aus → Reinszenierung des traumatischen Erlebnisses über selbstschädigendes Verhalten führt u.a. dazu, die Kontrolle über den eigenen Körper zurückzugewinnen
  • Kognitiv-behaviorale Ansätze
    • Frühe traumatische Erfahrungen führen zu unerfülltem Bedürfnis nach Fürsorge und dem Grundgedanken: „Ich bin verletzlich.“
    • Erkrankungen haben in der Vergangenheit Aufmerksamkeit erzeugt und Schutz vor (weiteren) Übergriffen geboten → Positive Verstärkung der Krankenrolle
    • Erneute Stressoren lösen artifizielle Störung aus → Grundgedanke: „Nur Krankheit bietet mir Schutz.“
Icon of a lock

Anmelden oder Einloggen , um den ganzen Artikel zu lesen.

Symptomatiktoggle arrow icon

Motivation [3]

Handlungen

Häufige Handlungen zur Verursachung artifizieller Symptome [2][3]
Beispiele
Dermatologie
  • Hautschädigungen durch
    • Aufbringen von Laugen oder Säuren
    • Quetschungen, Kratzen
    • Subkutane Injektion infizierter Lösungen
    • Strangulation von Extremitäten (→ Lymphödem)
Endokrinologie

Chirurgie

  • Manipulation an Wunden, zentralvenösen Zugängen, Drainagen
Gynäkologie
  • Automanipulation im Genitalbereich
  • Intravaginales Einbringen von Gegenständen oder Substanzen
Neurologie
Kardiologie
Urologie

Gastroenterologie

Psychiatrie
Andere
  • Thermometermanipulation (→ Fieber)
  • Eigenblutentnahme (→ Anämie)
Icon of a lock

Anmelden oder Einloggen , um den ganzen Artikel zu lesen.

Diagnostiktoggle arrow icon

Die Diagnostik einer artifiziellen Störung kann schwierig sein und ggf. mehrere Jahre dauern. Es sollte bedacht werden, dass artifizielle Störungen tatsächlich mit einer somatischen Erkrankung einhergehen können. Diese ist dann zwar nicht ursächlich, häufig jedoch Auslöser oder Folge einer artifiziellen Störung. [3]

Exploration

Mögliche Hinweise auf eine artifizielle Störung [2]

  • Unkontrollierbare und wiederkehrende Symptome
  • Ungewöhnlich lange Genesungsprozesse
  • (Unauffällige) Untersuchungsergebnisse widersprüchlich zu geschilderter Symptomatik
  • Diverse Vorbehandlungen in unterschiedlichen Einrichtungen
  • Ungewöhnliche Bereitschaft zu invasiven diagnostischen/therapeutischen Maßnahmen
  • Beträchtliche Anzahl an frustranen diagnostischen Tests und Therapieversuchen
  • Ständige Diskussion um Ergebnisse diagnostischer Tests
  • Von Patient:innen vorhergesagte Symptomverschlimmerung
  • Vermeidung fremdanamnestischer Angaben
  • Selbstentlassung nach geäußertem V.a. artifizielle Störung

Die Diagnose einer artifiziellen Störung ist bei Betroffenen mit Schamgefühl und Angst behaftet. Um einen Kontaktabbruch zu vermeiden, sollte eine Konfrontation nur bei stabiler Arzt-Patient-Beziehung erfolgen! [3]

Icon of a lock

Anmelden oder Einloggen , um den ganzen Artikel zu lesen.

Diagnostische Kriterientoggle arrow icon

ICD-10

Diagnostische Kriterien der artifiziellen Störung nach ICD-10 [5]
A
  • Anhaltende Verhaltensweisen, mit denen Symptome erzeugt oder vorgetäuscht werden und/oder
  • Selbstverletzungen, um Symptome herbeizuführen
B
  • Es kann keine äußere Motivation gefunden werden (bspw. finanzielle Entschädigung, Flucht vor Gefahr)
C
  • Ausschluss einer gesicherten körperlichen oder psychischen Störung, die die Symptome erklären könnte

ICD-11 [6]

  • Kategorien: Artifizielle Störung bezogen auf
    • Den eigenen Körper
    • Den Körper anderer
  • Mehr Informationen zur ICD-11 (deutsche Entwurfsfassung) unter Tipps & Links
Icon of a lock

Anmelden oder Einloggen , um den ganzen Artikel zu lesen.

Einteilung nach Schweregradtoggle arrow icon

  • Leicht
    • Meist nur vorgetäuschte Symptome (selten selbstinduziert)
    • Passagere Täuschung (oft nur einmalig)
    • Meist akute Konflikte vorhanden
    • Zugänglich für therapeutische Maßnahmen
  • Mittelschwer
    • Rezidivierende oder anhaltende Selbstschädigung
    • Häufige medizinische Kontakte
    • Ausgeprägte Täuschung / Dissoziation
    • Verdacht auf Persönlichkeitsstörung
  • Schwer
    • Lebensbedrohliche Selbstschädigung
    • Progredienter, chronischer Verlauf
    • Exzessive medizinische Kontakte
    • Persönlichkeitsstörung, psychiatrische Komorbidität
    • Anzeichen sozialer Entwurzelung
Icon of a lock

Anmelden oder Einloggen , um den ganzen Artikel zu lesen.

Differenzialdiagnosentoggle arrow icon

Die Abgrenzung der artifiziellen Störung von der somatoformen Störung und der Simulation gestaltet sich aufgrund fließender Übergänge meist sehr schwierig. [3]

AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Icon of a lock

Anmelden oder Einloggen , um den ganzen Artikel zu lesen.

Therapietoggle arrow icon

Es gibt keine evidenzbasierten Therapieverfahren für artifizielle Störungen. Die hier aufgeführten Empfehlungen ergeben sich aus Einzelfallberichten. Ein großes Problem stellt zudem die meist fehlende Therapiemotivation der Betroffenen dar. [2][3]

Allgemein

  • Stabile Arzt-Patient-Beziehung aufbauen
  • Wertschätzende und empathische Grundhaltung einnehmen
  • Interdisziplinäres Vorgehen anstreben
  • Komorbide Störungen behandeln

Psychotherapeutische Ansätze

  • Konfrontative Verfahren
    • Vermittlung eines individuellen Krankheitskonzepts als möglicher Ausdruck früher traumatischer Erfahrungen
    • Abschluss eines Behandlungsvertrags zur schrittweisen Minderung der Selbstverletzung
    • Aufarbeitung früher traumatischer Erfahrungen (bspw. unter Einsatz von Schematherapie)
    • Erarbeitung alternativer Verhaltensoptionen anhand ressourcenorientierter Ansätze, bspw. Soziales Kompetenztraining, Achtsamkeit
    • Ggf. Einsatz dialektisch-behavioraler Elemente (DBT)
    • Körperorientierte psychotherapeutische Verfahren
  • Nicht-konfrontative Verfahren (nicht bei akuter Eigengefährdung!)
    • Strategisch-behavioraler Ansatz
    • Kritik: Irreführung der Betroffenen sowie fehlende Behandlung grundlegender Probleme

Die artifizielle Störung ist Ausdruck einer dysfunktionalen Problembewältigung, sie hat also für Betroffene eine bestimmte Funktion. Dafür müssen Alternativen geschaffen werden, anderweitig kann es zu keiner langfristigen Besserung kommen.

Icon of a lock

Anmelden oder Einloggen , um den ganzen Artikel zu lesen.

Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025toggle arrow icon

  • F68.1: Artifizielle Störung [absichtliches Erzeugen oder Vortäuschen von körperlichen oder psychischen Symptomen oder Behinderungen]
    • Durch Institutionen wandernder Patient [peregrinating patient]
    • Hospital-Hopper-Syndrom
    • Münchhausen-Syndrom
    • Exklusive: Dermatitis factitia (L98.1), Vortäuschung von Krankheit (mit offensichtlicher Motivation) (Z76.8)

Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.

Icon of a lock

Anmelden oder Einloggen , um den ganzen Artikel zu lesen.

Probiere die Testversion aus und erhalte 30 Tage lang unbegrenzten Zugang zu über 1.400 Kapiteln und +17.000 IMPP-Fragen.
disclaimer Evidenzbasierte Inhalte, von festem ärztlichem Redaktionsteam erstellt & geprüft. Disclaimer aufrufen.