Abstract
Eine vorzeitige Plazentalösung (Abruptio placentae, Ablatio placentae) kommt bei etwa 1% aller Geburten vor und stellt primär eine vitale Bedrohung für das Leben des Ungeborenen dar, bei starker Blutung auch für das der Mutter. Meist ist die Ursache der Plazentalösung unklar, wobei Gefäßveränderungen und Traumata als prädisponierende Faktoren angenommen werden. In 20–30% der Fälle bleibt die vorzeitige Lösung asymptomatisch und ist nur sonografisch zu diagnostizieren. Symptomatisch wird die Erkrankung mit Schmerzen im Unterbauch, einem brettharten Uterus und Symptomen des Volumenmangels bei starker sichtbarer oder unsichtbarer innerer Blutung. Im CTG bestätigen sich die Zeichen einer akuten Plazentainsuffizienz in Kombination mit einer fetalen Hypoxie. Die Sonografie führt i.d.R. zur richtigen Verdachtsdiagnose und zur Einleitung adäquater therapeutischer Maßnahmen. Diese unterscheiden sich abhängig von Symptomatik und Kreislaufstabilität bei Mutter und Kind. Es muss immer auch an das Auftreten von Blutungskomplikationen wie z.B. eine Verbrauchskoagulopathie gedacht und dieser entgegen gewirkt werden.
Definition
- Partielle oder vollständige Ablösung der normal sitzenden Plazenta von ihrer Haftfläche im Cavum uteri vor der Geburt
- Mütterliche Perfusion der Plazenta ist eingeschränkt oder vollkommen unterbunden → Blutung aus mütterlichen Gefäßen
- Je nach Größe der Ablösung vitale Bedrohung für Mutter und Kind
- Hauptgefahr für die Schwangere: Massiver Blutverlust bis hin zum Kreislaufstillstand, ggf. damit einhergehende Komplikationen wie disseminierte intravasale Gerinnung (DIC)
- Hauptgefahr für das Kind: Hypoxie mit erhöhter perinataler Morbidität und Mortalität, Frühgeburtlichkeit, postpartale Gerinnungsstörung
Epidemiologie
- Vorkommen bei knapp 1% aller Schwangerschaften
- Ursache für etwa 30% der Blutungen in der Spätschwangerschaft
- Rezidivrate in einer Folgeschwangerschaft beträgt bis zu 17% [1]
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
Prädisponierende Faktoren
- Soziodemografische Faktoren
- Nikotinabusus
- Mütterliches Alter >35 Jahre
- Multiparität
- Mütterliche Erkrankungen
- Vorangegangene vorzeitige Plazentalösung
- Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen, z.B. Präeklampsie
- Uterusanomalien oder Myome
- Traumatische Ursachen
- Abdominelle Traumen durch Unfälle
- Iatrogen
- Mechanische Ursachen
- Zu kurze Nabelschnur
- Intrauteriner Druckabfall (z.B. nach Geburt des ersten Kindes bei Mehrlingsschwangerschaft, bei Amniotomie oder vorzeitigem Blasensprung )
Pathophysiologie
Die genaue Pathophysiologie ist bisher nicht abschließend geklärt.
- Primärer Pathomechanismus: Ruptur vorgeschädigter maternaler Gefäße in der Dezidua → Zunehmende Blutansammlung zwischen Plazenta und Uterushaftfläche → Fortschreiten der Ablösung bis zur vollständigen Plazentalösung
- Minderversorgung des Fötus durch Kompression des intervillösen Raums (Hämatom) und Minderperfusion der Plazenta durch abgerissene maternale Gefäße
- Zusätzliche Thrombosierung mit weiterer Versorgungseinschränkung möglich
- Ggf. als Extremvariante Couvelaire-Syndrom (Apoplexia uteri): Einblutung in die Uteruswand und Thrombosierung uteriner Gefäße, die zu einer Minderversorgung und einem Verlust der uterinen Kontraktionsfähigkeit führen (Uterusatonie) → Atone Nachblutung
- Circulus vitiosus: Retroplazentare Hämatombildung → Massiver inapparenter Blutverlust; dies führt zu:
- Volumenmangelschock
- Disseminierter intravasaler Gerinnung: Freisetzung von Gewebsthromboplastin aus der Plazenta durch vorzeitige Lösung → Massive Gerinnung unter Gerinnungsfaktoren- und Thrombozytenverbrauch (Gerinnungsfaktoren, Thrombozyten und Fibrinogen↓) → Aktivierung des fibrinolytischen Systems mit Spaltung der Gerinnsel (D-Dimere↑) → Erhöhte Blutungsneigung durch Entgleisung des Gerinnungssystems und antikoagulatorisch wirkende Fibrinspaltprodukte (D-Dimere)
Ausschließlich die Geburt des Kindes oder Entbindung der Mutter mit Entfernung der Plazenta kann diesen Teufelskreis unterbrechen!
Symptome/Klinik
Einteilung nach Schweregrad
- Grad I : Nur geringe Ablösung, klinisch häufig stumm
- Grad II: Marginale Ablösung, geringgradige Blutung bei unauffälligem fetalen Zustand und weichem Uterus
- Grad III: Starke Ablösung, ausgeprägte Blutung mit Schmerzen, erhöhtem Uterustonus und pathologischem CTG bis hin zum intrauterinen Fruchttod
Typische Klinik
In Abhängigkeit vom Ausmaß der Ablösung sowie von der Größe und Lokalisation des Hämatoms kommt es zu einer unterschiedlich starken Ausprägung der Symptomatik.
- Maternal: In 20–30% der Fälle asymptomatisch und nur sonografisch zu diagnostizieren
- Typische Symptomatik: Plötzlich einsetzende starke abdominale Schmerzen (insb. Unterbauch)
- Druckempfindlicher, brettharter Uterus
- Innere Unruhe, Stress, Angst und schlechter Allgemeinzustand der Patientin
- Ggf. dunkle vaginale Blutung: Kann fehlen , da das Blut hinter die Plazenta tritt und nicht notwendigerweise durch die Zervix und Vagina nach außen gelangen muss (retroplazentares Hämatom)
- Ggf. Wehentätigkeit bis hin zum Wehensturm (Tachysystolie), Uterustonus↑
- Im Verlauf ggf. Zeichen von Komplikationen
- Zeichen des akuten Blutverlustes bis hin zum Volumenmangelschock: Atemnot, Tachykardie, Blässe, Kaltschweißigkeit, Durst
- Durch Blutverlust und massive Gerinnung bedingte disseminierte intravasale Koagulation (DIC) mit Schock
- Erst nach Entfernung des retroplazentaren Hämatoms zu stoppen
- Typische Symptomatik: Plötzlich einsetzende starke abdominale Schmerzen (insb. Unterbauch)
- Fetal: Zeichen einer Hypoxie bei Plazentainsuffizienz
- Mögliche Zeichen im CTG bei ausgeprägter Ablösung: Schwere Bradykardie mit ausgeprägten variablen Dezelerationen
- Eine initiale Tachykardie als Kompensationsversuch des Fötus ist möglich
- Abgeschwächte bis fehlende Kindsbewegungen
- Mögliche Zeichen im CTG bei ausgeprägter Ablösung: Schwere Bradykardie mit ausgeprägten variablen Dezelerationen
Die sichtbare Blutungsmenge wird i.d.R. unterschätzt! Bei stärkerer oder ggf. nicht einschätzbarer Blutung sollte immer an eine DIC gedacht und entsprechende Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden (großlumige Zugänge, Volumensubstitution, Erythrozytenkonzentrate, Fresh Frozen Plasma und ggf. Thrombozytenkonzentrate bereitstellen)!
Diagnostik
Die Diagnose der vorzeitigen Plazentalösung ist vor allem klinisch aufgrund der Symptomatik, CTG und Ultraschallbefunden sowie Laborveränderungen zu stellen. Für das praxisorientierte Vorgehen bei Blutungen in der Spätschwangerschaft siehe auch: Klinisches Management präpartaler Blutungen. Wichtige diagnostische Schritte bei V.a. vorzeitige Plazentalösung sind:
- Kontrolle der Vitalparameter von Mutter und Kind
- Monitoring der mütterlichen Vitalzeichen
- Dauer-CTG
- Orientierende körperliche Untersuchung: Palpation von Abdomen und Uterus, Bestimmung des Fundusstandes und des Uterustonus
- Abdominelle Sonografie: Sollte zur Bestimmung der Lage der Plazenta immer durchgeführt werden
- Vitalitätskontrolle des Kindes (Herzaktion, Kindsbewegungen)
- Darstellung des Plazentasitzes und eines möglichen retroplazentaren Hämatoms
- Klinische Chemie: Kontrolle von Blutbild und Gerinnung
- Hb-Kontrolle: Der Hb-Wert muss jedoch mit Vorsicht interpretiert werden, da er der aktuellen Situation immer etwas hinterherhinkt!
- Kontrolle der Gerinnungsparameter inkl. D-Dimere: Sollte mind. 4-stündlich bis zur Geburt erfolgen!
- Einer disseminierten intravasalen Gerinnung muss frühzeitig entgegengewirkt werden
- Kreuzblut und ggf. Bereitstellung von Blutprodukten
- Ggf. bei geringerer Akuität auch farbkodierte Doppler-Sonografie: Flussprofile der Aa. uterinae , Nabelarterien und Aorta
- Vaginale Untersuchung: Nach sonografischem Ausschluss einer Placenta praevia (ansonsten kontraindiziert)
- Erhebung von Blutungsfarbe und -stärke
- Erhebung des Zervixbefundes
Eine rasche Diagnose und eine daran unmittelbar anschließende Therapie sind bei schwerem Verlauf entscheidend für das Überleben der Mutter und insb. des Kindes!
Differenzialdiagnosen
Differenzialdiagnosen der akuten Plazentainsuffizienz
- Plazentainfarkt
- Placenta praevia mit Blutung
- Wehensturm unter der Geburt
- Nabelschnurkomplikationen (z.B. Nabelschnurknoten)
- Uterusruptur
- Siehe auch
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Das klinische Vorgehen ist abhängig von der Befundschwere, dem Zustand der Schwangeren und des Kindes sowie dem Gestationsalter. Prinzipiell unterscheidet man zwischen einem abwartenden und einem aktiven Vorgehen. Zum praktischen Vorgehen und Komplikationsmanagement siehe auch: Klinisches Management von Blutungen im 2. und 3. Trimenon und Invasive Maßnahmen zur Blutungsstillung bei peripartaler Blutung
Vorgehensweise nach Schweregrad
Bei unauffälligen fetalen Befunden und kreislaufstabiler Mutter (max. Grad II): Abwartendes Vorgehen
- Intensive stationäre Überwachung mit Bettruhe und regelmäßigen Kontrollen unter ständiger Handlungsbereitschaft
- Bis 34. SSW
- Induktion der Lungenreife mit Corticosteroiden, z.B. Betamethason
- Ggf. bis zur Beendigung der Lungenreifeinduktion Tokolyse, z.B. mit β2-Sympathomimetika oder Atosiban
- Normale Geburt anstreben
- Individuelle Entscheidung, ob eine symptomfreie Patientin wieder in die ambulante Betreuung entlassen werden kann
Ab Grad III: Aktives Vorgehen
- Bei akuten Symptomen und lebendem Kind: Unmittelbare Sectio unabhängig von der SSW nach Kreislaufstabilisierung der Schwangeren
- Bei akuten Symptomen und intrauterinem Fruchttod
- Bei stabiler Kreislaufsituation der Schwangeren und intrauterinem Fruchttod: Einleitung der vaginalen Entbindung durch medikamentöse Weheninduktion mit Oxytocin und Eröffnung der Fruchtblase (Amniotomie)
- Gleichzeitig Ausgleich von Volumen und ggf. Gerinnungsfaktoren, engmaschige Laborkontrollen
- Bei mütterlicher Gefährdung aufgrund starker Blutungen oder eines langsamen Voranschreitens der Geburt (unreife Zervix): Umgehende Sectio auch bei totem Kind
Komplikationen
- Maternal
- Hämorrhagischer Schock
- Für das Notfallmanagement siehe: Hämorrhagischer Schock - AMBOSS-SOP
- Disseminierte intravasale Gerinnung
- Postpartale Blutung
- Multiorganversagen
- Risiko einer erneuten vorzeitigen Plazentalösung bei der nächsten Schwangerschaft bis zu 17%
- Hämorrhagischer Schock
- Fetal
- Hypoxische Schäden
- Gestörte postpartale Gerinnung
- Siehe auch: Klinisches Management präpartaler Blutungen
Es werden die wichtigsten Komplikationen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Prognose
- Maternale Mortalität 0,5–5% [2]
- Fetale peripartale Mortalität 14–67% [2]
- Intrauteriner Fruchttod (Risiko ca. 10%) [3]
Prävention
- Insb. bei erhöhtem Risiko durch entsprechende Vorgeschichte
- Intensivierte sonografische Kontrollen der fetoplazentaren Entwicklung ab dem 3. Trimenon
- Fetometrie inkl. Fehlbildungsdiagnostik, fetale Versorgung
- Kontrolle der uteroplazentaren Blutversorgung
- Je nach Risiko und Infrastruktur ggf. prophylaktische Patientenaufnahme zur Überwachung erwägen
- Intensivierte sonografische Kontrollen der fetoplazentaren Entwicklung ab dem 3. Trimenon
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2022
- O45.-: Vorzeitige Plazentalösung [Abruptio placentae]
- O45.0: Vorzeitige Plazentalösung bei Gerinnungsstörung
-
Abruptio [Ablatio] placentae mit (verstärkter) Blutung im Zusammenhang mit:
- Afibrinogenämie
- Disseminierter intravasaler Gerinnung
- Hyperfibrinolyse
- Hypofibrinogenämie
-
Abruptio [Ablatio] placentae mit (verstärkter) Blutung im Zusammenhang mit:
- O45.8: Sonstige vorzeitige Plazentalösung
- O45.9: Vorzeitige Plazentalösung, nicht näher bezeichnet
- Abruptio placentae o.n.A.
- O45.0: Vorzeitige Plazentalösung bei Gerinnungsstörung
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2022, DIMDI.