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Trigeminusneuralgie

Letzte Aktualisierung: 20.4.2023

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Bei der Trigeminusneuralgie handelt es sich um einen blitzartig einschießenden einseitigen Gesichtsschmerz. Er ist extrem stark und tritt bevorzugt im Versorgungsgebiet des zweiten und dritten Trigeminusastes auf. Der Schmerz hält einige Sekunden an und kann bis zu 100 mal pro Tag auftreten. Schmerzereignisse sind in Ruhe möglich oder können durch Triggerfaktoren wie Kauen oder Berührung ausgelöst werden. Der Leidensdruck der Betroffenen ist sehr hoch. Man unterscheidet eine klassische Form, der ein pathologischer Kontakt zwischen N. trigeminus und einem Gefäß zugrundeliegt, von einer symptomatischen Form, beispielsweise im Rahmen einer Multiplen Sklerose. Die medikamentöse Behandlung erfolgt vor allem mit Carbamazepin. Auch eine operative Dekompression (mikrovaskuläre Dekompression nach Jannetta), eine Ausschaltung von Schmerzfasern durch Hitze oder eine Bestrahlung des N. trigeminus kann sinnvoll sein.

  • Inzidenz: 10/100.000 Einwohner pro Jahr
  • Geschlecht: > (2:1)
  • Alter: Häufigkeitsgipfel 70.–80. Lebensjahr

Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.

  • Neurovaskuläres Kompressionssyndrom
    • Komprimierung des Nerven durch Gefäß → Lokale Demyelinisierung → Generierung ektoper Impulse an demyelinisierten Fasern → Hyperexzitation und Signalübertragung zwischen demyelinisierten sensiblen und nozizeptiven Fasern
    • Im Verlauf auch axonale Schädigung möglich
  • Leitsymptome
    • Blitzartig einschießende, heftige, einseitige Gesichtsschmerzen
      • Auftreten als einzelne Attacke oder in Serien, teilweise bis zu 100×/Tag
    • Reflektorische Spasmen der mimischen Muskulatur
    • Spontan oder durch Triggerfaktoren ausgelöst: Kauen, Sprechen, Berührungen (Waschen des Gesichts, Zähneputzen etc.)
  • Lokalisation: Betroffen ist meist der zweite (N. maxillaris) und/oder der dritte Trigeminusast (N. mandibularis)
  • Im Verlauf: Dumpfer Dauerschmerz zwischen den Attacken möglich

Die Trigeminusneuralgie wird über die typische Schmerzsymptomatik diagnostiziert. Die Zusatzdiagnostik dient insbesondere der Abgrenzung symptomatischer Formen

Klinisch-neurologische Diagnostik

  • Klassische Trigeminusneuralgie
    • Zwischen Attacken unauffällig
    • Hyperalgesie im Versorgungsgebiet des betroffenen Nerven während Attacke möglich
  • Symptomatische Trigeminusneuralgie
    • Schmerzen im Versorgungsgebiet zwischen Attacken möglich
    • Sensibilitätsstörungen im Versorgungsgebiet des betroffenen Nerven möglich
    • Ggf. andere fokale Defizite durch ursächliche Läsion oder Raumforderung

Diagnosekriterien der Trigeminusneuralgie der International Headache Society

Klassische Trigeminusneuralgie

Kriterien Beschreibung
A

Anfallsartige Schmerzattacken

  • mit einer Dauer von weniger als einer Sekunde bis zu 2 Minuten,
  • die mindestens einen Ast des N. trigeminus betreffen
  • und die Kriterien B und C erfüllen
B

Der Schmerz erfüllt mindestens ein Charakteristikum:

  • Heftig, scharf, oberflächlich oder stechend
  • Ausgelöst über eine Triggerzone oder einen Triggerfaktor
C Stereotypes Attackenmuster beim einzelnen Patienten
D Klinisch kein neurologisches Defizit
E Beschwerden können nicht auf andere Erkrankung zurückgeführt werden

Symptomatische Trigeminusneuralgie

Kriterien Beschreibung
A

Anfallsartige Schmerzattacken

  • mit einer Dauer von weniger als einer Sekunde bis zu 2 Minuten,
  • mit oder ohne Schmerz zwischen den Attacken,
  • die mindestens einen Ast des N. trigeminus betreffen
  • und die Kriterien B und C erfüllen
B

Der Schmerz erfüllt mindestens ein Charakteristikum:

  • Heftig, scharf, oberflächlich oder stechend
  • Ausgelöst über eine Triggerzone oder einen Triggerfaktor
C Stereotypes Attackenmuster beim einzelnen Patienten
D

Ursächliche Läsion (keine vaskuläre Kompression) ergibt sich aus

Bildgebung des Kopfes

  • MRT: Ausschluss/Nachweis von Raumforderungen, demyelinisierenden Prozessen (MS) und anderen Ursachen einer symptomatischen Trigeminusneuralgie
    • Zusätzliche Sequenzen
      • Time-of-Flight-MRA (TOF-MRA): Darstellung von Arterien
      • Kontrastmittelgestützte MRA: Darstellung von Arterien und Venen
      • Hochauflösende 3D-CISS-Sequenzen
        • Darstellung des Gefäß-Nerven-Kontaktes
        • Nur bei Operationsplanung durchführen

Neurophysiologische Diagnostik (fakultativ)

  • Ziel: Nachweis einer Affektion des N. trigeminus , ggf. topografische Zuordnung
  • Blinkreflex
    • Ziel: Nachweis einer Affektion des 1. Trigeminusastes (N. ophthalmicus)
    • Befund
      • Klassische Trigeminusneuralgie: Häufig normal
      • Symptomatische Trigeminusneuralgie: Fehlen der Reflexantworten 1 und 2 möglich
  • Trigeminus-SEP
    • Ziel: Nachweis einer Affektion des 2. und 3. Trigeminusastes (N. maxillaris bzw. N. mandibularis)
    • Befund
      • Klassische Trigeminusneuralgie: Häufig normal
      • Symptomatische Trigeminusneuralgie: Verlängerte Latenzen im betroffenen Ast möglich
  • Masseterhemmreflex (Kieferöffnungsreflex)
    • Ziel: Nachweis einer Affektion des 3. Trigeminusastes (N. mandibularis)
    • Befund
      • Klassische Trigeminusneuralgie: Häufig normal
      • Symptomatische Trigeminusneuralgie: Abnorme Befunde beider Reflexantworten möglich

Weitere Diagnostik

  • Lumbalpunktion bei Verdacht auf entzündliche Genese, Ausschluss einer MS
  • Bei atypischen Befunden HNO-ärztliche oder stomatologische Vorstellung

AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Medikamentös

Gängige Schmerzmittel wie nichtsteroidale Antiphlogistika sind bei der Trigeminusneuralgie wirkungslos!

Mittel der 1. Wahl

  • Carbamazepin
    • Indikation: Medikamentöse Basistherapie bei Trigeminusneuralgie
    • Therapiehinweise
      • Ältere Patienten: niedrigere Maximaldosis
      • Akutsituation: Gabe als schnellwirksame Suspension sinnvoll
      • Wirksamkeit
        • Ein Großteil der Patienten (>80%) spricht anfangs auf die Therapie an, langfristig allerdings nur noch jeder zweite
        • Bei Wirkabschwächung zu Therapiebeginn: Aufdosierung aufgrund etwaiger Enzyminduktion
        • Im Verlauf der Therapie sind für den gleichen klinischen Effekt höhere Dosen notwendig
        • Nebenwirkungen sind häufig dosis- und therapielimitierend
      • Laborkontrolle
      • Schwangerschaft
        • Fortführung der Therapie, wenn klinisch notwendig
        • Monotherapie
        • Möglichst geringe Dosierung (Einstellung im unteren therapeutischen Bereich, Spiegelkontrollen)
      • Stillzeit: Strenge Indikationsstellung
  • Oxcarbazepin
    • Indikation: Umstellung von Carbamazepin bei guter Wirksamkeit, aber untolerierbaren Nebenwirkungen oder Interaktionen
    • Therapiehinweise
      • Off-label-Therapie
      • Bei Umstellung von Carbamazepin:
        • Niedrige und mittlere Carbamazepindosen: Verhältnis 1,5 zu 1 (Oxcarbazepin zu Carbamazepin)
        • Hohe Carbamazepindosen: Verhältnis 1 zu 1
      • Schnellerer Wirkeintritt
      • Insgesamt weniger Nebenwirkungen als Carbamazepin
      • Geringe Enzyminduktion
      • Laborkontrollen: Wie Carbamazepin, aber häufigere Natriumkontrollen (nach zwei Wochen, dann monatlich) aufgrund höherer Hyponatriämierate als bei Carbamazepin

Mittel der 2. Wahl

  • Baclofen
    • Therapiehinweise
      • Off-label-Therapie
      • Langsame Aufdosierung
      • Wirkt bei großem Teil der Patienten, die auf Carbamazepin nicht ansprechen
      • Bei Beschwerdefreiheit erreichte Erhaltungsdosis über 6 Wochen fortführen, dann Dosisreduktion um 10mg/Woche erwägen
      • Bei unzureichendem Ansprechen auf Carbamazepin oder Baclofen: Kombinationstherapie probieren
      • Kein abruptes Absetzen
    • Laborkontrollen: Leberwerte zu Therapiebeginn wöchentlich, dann monatlich
  • Lamotrigin
    • Indikation: Unzureichende Wirkung bzw. Unverträglichkeit von Mitteln der 1. Wahl
    • Therapiehinweise
  • Gabapentin
    • Indikation: Unzureichende Wirkung bzw. Unverträglichkeit von Mitteln der 1. Wahl
    • Therapiehinweise
      • Gabapentin ist Carbamazepin therapeutisch unterlegen, aber besser verträglich
      • Geringes Interaktionspotenzial, kein Einfluss auf orale Kontrazeption
  • Pregabalin
    • Indikation: Unzureichende Wirkung bzw. Unverträglichkeit von Mitteln der 1. Wahl
    • Therapiehinweise
      • Häufig Besserung der Beschwerden, geringe Rate von Schmerzfreiheit
      • Geringes Interaktionspotenzial

Akuttherapie

  • Carbamazepin
  • Phenytoin
    • Indikation: Schwere Exazerbation
    • Verordnung
      • Langsame i.v.-Gabe
      • Bei Bedarf weitere Aufsättigung
      • Ersatz durch anderes Präparat nach klinischer Stabilisierung

Operativ

  • Indikation bei klassischer Trigeminusneuralgie: Versagen der medikamentösen Therapie (spätestens nach 3 Monotherapien oder erfolgloser Kombinationstherapie) oder untolerierbare Nebenwirkungen
  • Wahl der Methode:
    • Kein erhöhtes Operationsrisiko: Vorzugsweise mikrovaskuläre Dekompression
    • Erhöhtes Operations- oder Anästhesierisiko: Perkutanes oder radiochirurgisches Verfahren
    • Symptomatische Trigeminusneuralgie bei Multipler Sklerose: Gute Ergebnisse bei radiochirurgischer Therapie

Mikrovaskuläre Dekompression nach Jannetta

  • Prinzip (einzige kausale Therapieoption): Aufhebung des Gefäß-Nerven-Kontakts zwischen N. trigeminus und (meist) der A. superior cerebelli durch Einbringen eines kleinen Stück Materials (z.B. Teflon)
  • Durchführung
    • Allgemeinanästhesie
    • Halbsitzende Position oder Rückenlage
    • Subokzipitale, retromastoidale Kraniotomie
    • Darstellung des Austritts des N. trigeminus aus dem Hirnstamm
    • Mobilisierung und Verlagerung des komprimierenden Gefäßes
    • Einbringen eines Interponats etwa aus Teflon
  • Ergebnisse
    • Erfolgsquote
      • 98% nach Operation
      • 67% nach 10 Jahren
    • Komplikationen

Perkutane Radiofrequenzthermokoagulation des Ganglion trigeminale (Ggl. Gasseri)

  • Prinzip: Destruktives Verfahren mit Schädigung der nozizeptiven Fasern des Ganglions durch thermische Koagulation
  • Durchführung
    • Elektive Analgosedierung
    • Zugang über das Foramen ovale (unter Durchleuchtungskontrolle) mit Radiofrequenzsonde
    • Prüfung der Elektrodenlage durch elektrische Stimulation
    • Applikation von Wärme (60–70°C für 60–70 Sekunden)
  • Ergebnisse
    • Erfolgsquote
      • Hoch, über 90% nach Eingriff
      • Etwa 50% nach 5 Jahren
      • Das Verfahren kann wiederholt werden, die Erfolgswahrscheinlichkeit ist dann häufig geringer
    • Komplikationen
  • Andere perkutane Verfahren mit Schädigung des Ganglions
    • Glycerolinjektion
    • Ballondilatation

Radiochirurgische Therapie

  • Prinzip: Hirnstammnahe stereotaktische Bestrahlung des N. trigeminus durch Gamma-Knife oder Linearbeschleuniger einmalig mit Dosen zwischen 70 und 90 Gy
  • Ergebnisse
    • Verzögerter Wirkeintritt (i.d.R. 2 Wochen bis 2 Monate)
    • Erfolgsquote
      • Im Vergleich zu anderen Verfahren geringer, steigt mit zunehmender Dosis
      • Etwa 70% Schmerzfreiheit nach Eingriff
      • Etwa 45% nach 5 Jahren und 25% nach 10 Jahren
    • Komplikationen
      • Vergleichsweise niedrige Rate an Komplikationen
      • Sensibilitätsstörungen häufig (zwischen 10 und 40%), Häufigkeit korreliert mit applizierter Dosis
    • Insbesondere bei MS-Patienten mit symptomatischer Trigeminusneuralgie: Guter Erfolg des Verfahrens
  • Etwa ⅓ der Patienten hat nur eine Episode im Leben
  • Häufig progredient im Lebensverlauf
  • Häufig Phasen mit Spontanremission

Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2023, DIMDI.

  1. Brandt et al.: Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen. 6. Auflage Kohlhammer 2012, ISBN: 3-170-21674-0 .
  2. Hacke (Hrsg.): Neurologie. 14. Auflage Springer 2016, ISBN: 978-3-662-46891-3 .
  3. Linn et al. (Hrsg.): Atlas Klinische Neuroradiologie des Gehirns. 1. Auflage Springer 2011, ISBN: 978-3-540-89568-8 .
  4. S1-Leitlinie Trigeminusneuralgie. Stand: 1. September 2012. Abgerufen am: 28. Juni 2016.
  5. Göbel: Die Kopfschmerzen. 3. Auflage Springer 2012, ISBN: 978-3-642-20694-8 .
  6. Bischoff et al. (Hrsg.): EMG - NLG . 3. Auflage Thieme 2014, ISBN: 978-3-131-35663-5 .