Abstract
Die Gruppe der somatoformen Störungen ist durch körperliche Symptome geprägt, die "somatisch" nicht begründbar sind. Die Folge sind hartnäckige Forderungen nach medizinischen Untersuchungen trotz wiederholter negativer Ergebnisse. Häufig geht den somatoformen Störungen aber eine somatische Erkrankung voraus.
Die Somatisierungsstörung (F45.0, F45.1) ist durch multiple wechselnde körperliche Symptome aller Organsysteme charakterisiert. Bei der hypochondrischen Störung (F45.2) liegt der Fokus dagegen auf einer einzelnen bestimmten schweren Erkrankung (z.B. HIV, Malignome, etc.). Die dritte wichtige Störung ist die somatoforme autonome Funktionsstörung (F45.3), bei der auf Organe des vegetativen Nervensystems "somatisiert" wird (z.B. Herzneurose). Oft ist es schwierig, zwischen einer Somatisierungsstörung und einer Hypochondrie zu unterscheiden. Um den Unterschied einmal ganz banal zu erklären: Die Patienten mit der Somatisierungsstörung wollen unbedingt eine Diagnose haben. Hypochondrische Patienten haben eine übertriebene Angst vor einer möglichen Diagnose.
Bei der langwierigen und schwierigen Therapie kommen Antidepressiva (SSRI), Benzodiazepine und psychotherapeutische Verfahren zum Einsatz. Benzodiazepine bringen in der Regel kurzzeitige Symptomverbesserung, so dass die Patienten dazu neigen, sich auf diese Medikamentengruppe zu fixieren und eine Abhängigkeit zu entwickeln.
Somatisierungsstörung (F45.0, F45.1)
- Kurzbeschreibung: Bei der Somatisierungsstörung leiden die Betroffenen (meist Frauen) unter multiplen, häufig wechselnden, körperlichen Symptomen aller Organsysteme ohne organische Begründung. Es handelt sich um ein schweres, meist therapieresistentes Krankheitsbild, da sich die Betroffenen sehr auf die Symptome fixieren.
- Merkmale
- Beginn: Meist vor dem 30. Lebensjahr
- (Vereinfachte) Diagnosekriterien einer Somatisierungsstörung nach ICD-10
- A: Verschiedene und wechselnde körperliche Symptome über mindestens 2 Jahre → Schon- und Vermeidungsverhalten
- B: Ständige Beschäftigung mit den Symptomen und dadurch hoher Leidensdruck
- C: Weigerung zu akzeptieren, dass den Beschwerden keine organische Ursache zugrunde liegt
- D: Mindestens 6 verschiedene Symptome liegen vor
- Verlaufsformen
- Somatisierungsstörung (F45.0): Multiple und häufig wechselnde körperliche Symptome, die länger als zwei Jahre bestehen und kein organisches Korrelat besitzen, werden als Somatisierungsstörung klassifiziert.
- Undifferenzierte Somatisierungsstörung (F45.1): Eine inkomplette Symptomatik oder eine Symptomatik über einen Zeitraum von weniger als 2 Jahren wird als undifferenzierte Somatisierungsstörung klassifiziert.
Patienten mit Somatisierungsstörung bringen eine Vielzahl von Befunden von verschiedensten Ärzten mit (sog. "Big-File-Patient")!
Hypochondrische Störung (F45.2)
- Kurzbeschreibung: Bei den hypochondrischen Störungen ist der Patient davon überzeugt und verängstigt, unter bestimmten schweren Erkrankungen zu leiden (z.B. HIV, Malignome). Die Symptome sind teilweise wahnhaft gesteigert. Die Aufmerksamkeit ist dabei in der Regel nur auf das betroffene Organsystem gerichtet. Der Beginn ist häufig vor dem 50. Lebensjahr. Beide Geschlechter sind gleichermaßen betroffen.
- Verlaufsformen
- Hypochondrische Depression
- Darstellung als Zönästhesie
- Hypochondrische Dysmorphophobie: Zwanghafte Vorstellung, durch wirkliche oder vermeintliche Körperfehler abschätzig beurteilt zu werden
Somatoforme autonome Funktionsstörung (F45.3)
- Kurzbeschreibung: Die somatoforme autonome Funktionsstörung ähnelt der Hypochondrie, bezieht sich aber auf Organsysteme, die vom vegetativen Nervensystem innerviert sind. Als Beispiel ist die Herzneurose zu nennen.
- Funktionelle Herzbeschwerden (syn. „Herzneurose“, „Herzangststörung“, „Da-Costa-Syndrom“): Der Patient leidet an Herzbeschwerden, ohne dass in kardiologischen Untersuchungen ein organisches Korrelat gefunden werden kann. Die Erkrankung kann als Herzangst den hypochondrischen Störungen oder als Herzneurose den somatoformen autonomen Funktionsstörungen zugeordnet werden.
Anhaltende Schmerzstörung (F45.4)
- Anhaltende somatoforme Schmerzstörung (F45.40): Andauernde quälende Schmerzen, die durch eine somatische Störung nicht ausreichend erklärt werden können . Trigger sind häufig emotionale Konflikte und psychosoziale Probleme (→ Sozialanamnese!). Die Therapieoptionen und der Therapieerfolg sind häufig begrenzt.
Die Patienten neigen zu einer Schmerzmittelabhängigkeit - die Gabe von Schmerzmitteln und insbesondere Morphinen sollte vermieden werden!
Sonstige somatoforme Störungen (F45.8)
- Hierunter werden diejenigen somatoformen Störungen verstanden, die nicht anders zu klassifizieren sind. Meist beschränken sie sich auf eine Körperregion bzw. ein System, wie beispielsweise beim
- Globusgefühl
- Zähneknirschen
Therapie der somatoformen Störungen
- Somatoforme Störungen sind grundsätzlich schwer zu therapieren. In der Regel wird eine Kombination aus Psychotherapie (Verhaltenstherapie) und der Gabe von Antidepressiva (bevorzugt SSRI) versucht.
- Umgang mit somatisierenden Patienten
- Klares Setting
- Klare zeitliche Begrenzungen eines Termins
- Entkoppelung von Symptompräsentation und ärztlicher Zuwendung → Feste Terminvereinbarungen unabhängig von den Symptomen des Patienten
- Gelassene Haltung gegenüber dem Patienten: Ein distanzierter, aber trotzdem empathischer Umgang verbessert die Arzt-Patienten-Beziehung
- CAVE: Verdacht auf psychische Genese nicht ohne tragfähige Arzt-Patienten-Beziehung äußern → Provokation einer Ablehnung und Entwertung des Arztes
- CAVE: Fixierung auf eine somatische Erkrankung vermeiden
- Klares Setting
Benzodiazepine sollten nur mit Vorsicht gegeben werden, da die Patienten aufgrund der schnellen (und von ihnen erhofften) Symptomverbesserung ein besonders hohes Risiko haben, eine Abhängigkeit zu entwickeln!
Patienteninformationen
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2022
F45.-: Somatoforme Störungen
- Exklusive: Ausreißen der Haare (F98.4‑), Daumenlutschen (F98.8), Dissoziative Störungen (F44.‑), Lallen (F80.0), Lispeln (F80.8), Nägelkauen (F98.8), Psychologische oder Verhaltensfaktoren bei anderenorts klassifizierten Störungen und Krankheiten (F54), Sexuelle Funktionsstörungen, nicht verursacht durch eine organische Störung oder Krankheit (F52.‑), Ticstörungen (im Kindes- und Jugendalter) (F95.‑), Tourette-Syndrom (F95.2), Trichotillomanie (F63.3)
- F45.0: Somatisierungsstörung
- Briquet-Syndrom
- Multiple psychosomatische Störung
- Exklusive: Simulation [bewusste Simulation] (Z76.8)
- F45.1: Undifferenzierte Somatisierungsstörung
- Undifferenzierte psychosomatische Störung
- F45.2: Hypochondrische Störung
- Dysmorphophobie (nicht wahnhaft) Hypochondrie
- Hypochondrische Neurose
- Körperdysmorphophobe Störung
- Nosophobie
- Exklusive: Auf die körperlichen Funktionen oder die Körperform fixierte Wahnphänomene (F22.‑), Wahnhafte Dysmorphophobie (F22.8)
- F45.3-: Somatoforme autonome Funktionsstörung
- Da-Costa-Syndrom,
- Herzneurose
- Magenneurose
- Neurozirkulatorische Asthenie
- Psychogene Formen: Aerophagie, Colon irritabile, Diarrhoe, Dyspepsie, Dysurie, erhöhte Miktionshäufigkeit Flatulenz, Husten, Hyperventilation, Pylorospasmen, Singultus
- Exklusive: Psychische und Verhaltenseinflüsse bei anderenorts klassifizierten Störungen oder Krankheiten (F54)
- F45.30: Herz und Kreislaufsystem
- F45.31: Oberes Verdauungssystem
- F45.32: Unteres Verdauungssystem
- F45.33: Atmungssystem
- F45.34: Urogenitalsystem
- F45.37: Mehrere Organe und Systeme
- F45.38: Sonstige Organe und Systeme
- F45.39: Nicht näher bezeichnetes Organ oder System
- F45.4-: Anhaltende Schmerzstörung
- Exklusive: Rückenschmerzen o.n.A. (M54.9‑), Schmerz: akut (R52.0), chronisch (R52.2), therapieresistent (R52.1), o.n.A. (R52.9)
- F45.40: Anhaltende somatoforme Schmerzstörung
- Psychalgie
- Psychogen: Kopfschmerz, Rückenschmerz
- Somatoforme Schmerzstörung
- Exklusive: Spannungskopfschmerz (G44.2)
- F45.41: Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren
- Exklusive: Andauernde Persönlichkeitsänderung bei chronischem Schmerzsyndrom (F62.80), Psychologische Faktoren oder Verhaltensfaktoren bei anderenorts klassifizierten Krankheiten (F54)
- F45.8: Sonstige somatoforme Störungen
- Psychogen: Dysmenorrhoe, Dysphagie (einschließlich „Globus hystericus“), Pruritus, Tortikollis, Zähneknirschen
- F45.9: Somatoforme Störung, nicht näher bezeichnet
- Psychosomatische Störung o.n.A.
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2022, DIMDI.