Abstract
Die Schultereckgelenksverletzung bezeichnet die Luxation des Akromioklavikulargelenks (ACG-Luxation) und tritt meist infolge eines Sturzes auf die Schulter bei adduziertem Arm auf. Sie wird nach der Tossy- und Rockwood-Klassifikation eingeteilt. Am häufigsten ist die Luxation der Clavicula nach supraakromial (also nach kranial). Bei Rockwood III ist das sogenannte Klaviertastenphänomen als federnder Widerstand der nach kranial dislozierten Clavicula zu betrachten. Diagnostisch wird meist eine Röntgenaufnahme der betroffenen Schulter durchgeführt, um das Ausmaß der Verletzung beurteilen zu können, Begleitverletzungen wie z.B. Frakturen auszuschließen und das therapeutische Vorgehen zu bestimmen. Die konservative Therapie besteht in einer Ruhigstellung in einer Armschlinge oder im Gilchrist-Verband. Operativ stehen sowohl arthroskopische als auch offene Verfahren zur Verfügung, wobei sich bisher noch kein Goldstandard für die operative Therapie etablieren konnte.
Epidemiologie
- 3–4/100.000 Einwohner/Jahr
- Dritthäufigste Verletzung des Schultergürtels
- 2,5–6,5% aller Luxationen
- ♂ > ♀ [1]
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Meist direkte Krafteinwirkung durch Sturz auf die Schulter bei adduziertem Arm
- Seltener indirekte Krafteinwirkung durch Sturz auf den abduzierten Arm
Klassifikation
Tossy
- Tossy I: Überdehnung/Zerrung der Ligg. acromioclaviculare und coracoclaviculare
- Tossy II: Ruptur des Lig. acromioclaviculare und Überdehnung des Lig. coracoclaviculare
- Tossy III: Ruptur der Ligg. acromioclaviculare und coracoclaviculare mit resultierender Luxation im Schultereckgelenk
Rockwood
- Rockwood I–III: Entspricht Tossy I–III
- Rockwood IV:Wie Tossy III, zusätzlich dorsale Dislokation der Clavicula
- Rockwood V: Wie Tossy III, zusätzlich Abrissverletzung des M. deltoideus und M. trapezius vom lateralen Ende der Clavicula
- Rockwood VI: Wie Rockwood V, zusätzlich inferiore Dislokation der Clavicula unter den Processus coracoideus oder das Acromion
Pathophysiologie
- Biomechanischer und anatomischer Hintergrund
- Überdehnung oder Ruptur des Lig. acromioclaviculare → Horizontale Instabilität
- Überdehnung oder Ruptur des Lig. coracoclaviculare → Vertikale Instabilität
- Zu weiteren anatomischen Grundlagen siehe auch: Akromioklavikulargelenk
- Häufige Begleitverletzungen [2][3]: Verletzungen des Schultergelenks (v.a. glenohumerale Verletzungen wie bspw. SLAP-Läsion)
Symptome/Klinik
- Schmerzhaft eingeschränkte Beweglichkeit im Schultergelenk
- Hämatom, Schwellung
- Schonhaltung in Adduktion
Vorgehen in der Notaufnahme
- Anamnese und körperliche Untersuchung
- I.d.R. Selbstvorstellung
-
Anamnese mit Fokus auf Unfallhergang
- Bei vermutetem Arbeitsunfall: Meldung an die gesetzliche Unfallversicherung bzw. Vorstellung bei einem Durchgangsarzt (zur BG-lichen Aufnahme)
- Typische Klinik mit Schwellung und (Druck‑)Schmerzen im Bereich des AC-Gelenks
- Schmerzadaptierte Analgesie
- Bildgebung: Röntgen
- Schulter in zwei Ebenen: True-a.p. und axiale Aufnahme der Schulter
- AC-Gelenk Zielaufnahme nach Zanca
- Bei Bedarf: Belastungsaufnahme jeweils im Seitenvergleich
- Planung der weiteren Therapie je nach Befund
Diagnostik
Klinische Untersuchung
- Lokaler Druckschmerz
- Klaviertastenphänomen bei Rockwood III und V
Röntgen [2][4][5][6]
- Schulter in zwei Ebenen: True-a.p. und axiale Aufnahme der Schulter
- Mögliche Befunde
- Weichteilschwellung
- Begleitverletzungen (z.B. Claviculafraktur)
- Dorsale Dislokation der Clavicula
- Mögliche Befunde
- AC-Gelenk Zielaufnahme nach Zanca im Seitenvergleich
- Durchführung
- Aufnahme am stehenden oder sitzenden Patienten
- Einfallswinkel des Röntgenstrahls um 10–15° nach kranial gerichtet
- Normwerte
- Mittlerer Abstand des korakoklavikulären Zwischenraums = 1,1–1,3 cm
- Mittlerer Abstand des akromioklavikulären Gelenkspaltes = 0,6–0,7 cm
- Befund: Erweiterung des akromioklavikulären Gelenkspaltes und des korakoklavikulären Zwischenraumes
- Durchführung
- Ggf. Belastungsaufnahme
- Nach Frakturausschluss durch vorangegangene Röntgendiagnostik
- Mit 5–10 kg pro Seite im Seitenvergleich
- Panoramaaufnahme: Wegen Strahlenbelastung der Schilddrüse umstritten
- Alternativ: Beidseitige Einzelaufnahmen
Fakultative Diagnostik
- Sonografische Untersuchung des AC-Gelenks [4]
- Frontalebene: Erweiterter AC-Gelenkspalt , Gelenkerguss
- Sagittalebene: Erweiterter korakoklavikulärer Abstand , Zunahme des Abstandes bei Zug am Arm
- Zusätzlich: Beurteilung der Rotatorenmanschette
- MRT: I.d.R. nicht erforderlich
- Möglicher Einsatz
- Verdacht auf Begleitverletzungen
- Untersuchung des postoperativen Verlaufs
- Differenzierung zwischen degenerativen und akuten Veränderungen
- Möglicher Einsatz
- ACG-Injektionstest: Zur Identifizierung des Akromioklavikulargelenks als Ursache für chronische Schmerzen [7]
Differenzialdiagnosen
- Claviculafraktur (v.a. laterale Fraktur)
- AC-Gelenkarthrose
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Konservative Therapie [1][2][4][6][8]
- Indikation: Rockwood I–II, evtl. Rockwood III
- Ziel der Therapie: Rasche Schmerzfreiheit und Wiedererlangung der Funktion
- Durchführung
- Initial: Symptomatische Ruhigstellung in Armschlinge oder Gilchrist-Verband (i.d.R. ca. 1 Woche), Kühlen und schmerzadaptierte Analgesie (z.B. mit Ibuprofen )
- Physiotherapie: Sukzessiver Ausbau von Bewegungsausmaß und Kraft
- Fakultativ: Tapeverband zur schnelleren Schmerzreduktion
- Verhaltensempfehlung: Vermeidung von starken Belastungen und Kontaktsportarten bis zur Symptomfreiheit (ca. 6 Wochen)
- Wechsel auf sekundäre Operation: Bei Beschwerdepersistenz >3 Monate erwägen
Operative Therapie
- Indikation: Rockwood III (junge Patienten (<35 Jahre), überwiegende Überkopfarbeit, Sportler) und Rockwood IV–VI
- Ziel der Therapie: Reposition und stabile Retention
Durchführung [1][4][6][8]
- Lagerung: Beach-Chair-Lagerung
- Zugangsarten
- Offen: Horizontale oder vertikale Schnittführung
- Arthroskopisch (z.B. bei TightRope®-System)
- Gängige Operationsverfahren
- Techniken zur korakoklavikulären Stabilisation
- Bandnaht mit Augmentation
- TightRope®: Verbindung der Clavicula mit dem Proc. coracoideus mittels Knopfanker, die über Bohrlöcher eingebracht werden
- Resorbierbare Kordel (z.B. PDS-Kordel): Umschlingung des Proc. coracoideus und Fixierung an der Clavicula, ggf. Variation mit Bohrlöchern in beiden Strukturen
- Bosworth-Schraube: Schraubenosteosynthese zwischen Clavicula und Proc. coracoideus
- Bandnaht mit Augmentation
- Techniken zur akromioklavikulären Stabilisation
- Hakenplatte: Plattenosteosynthese, die auf die Clavicula geschraubt und unter das Acromion eingehakt wird
- Transartikuläre K-Draht-Fixation mittels Zuggurtung: 1–2 Kirschnerdrähte werden durch Acromion und Clavicula gebohrt und durch Zuggurtung in Position gehalten
- Techniken bei chronischer Instabilität : Bandplastiken
- Techniken zur korakoklavikulären Stabilisation
Nachbehandlung nach Maßgabe des Operateurs
Die Nachbehandlung sollte grundsätzlich unter Berücksichtigung der Maßgaben des Operateurs und/oder klinikinterner Standards erfolgen und immer auch an den individuellen Operations- und Heilungsverlauf angepasst werden. Für die generelle operative Nachsorge siehe auch: Nachsorge in der Orthopädie und Unfallchirurgie
- Ruhigstellung für 1–3 Tage (z.B. in Gilchrist-Verband oder Schulter-Abduktionskissen)
- Physiotherapie: Beginn nach Aufheben der Ruhigstellung
- Passive Bewegungsübungen mit Limitation auf 90° Abduktion und Flexion für 6–8 Wochen
- Anschließend passiv frei beweglich und Beginn aktiver Bewegungen ohne Belastung
- Ausnahme: Implantate wie Hakenplatte oder K-Draht-Osteosynthese müssen aufgrund des Risikos eines Materialbruchs erst entfernt werden, bevor Bewegungslimitation aufgehoben wird.
- Ab 12. postoperativer Woche Kraftaufbau mit Belastung
- Ggf. Metallentfernung: Nach ca. 6–8 Wochen [9]
- Nachbehandlung in Anlehnung an die Empfehlungen der DGOU siehe auch: Nachbehandlungsschemata der Schultereckgelenksverletzung
Diskussion der operativen Behandlungsmethoden der Schultereckgelenksverletzung
Je nach Autor werden verschiedene Verfahren präferiert. Etablierte Verfahren, wie die Osteosynthese mittels Hakenplatte oder K-Draht, scheinen dabei mehr und mehr von arthroskopischen Verfahren mit TightRope®-Stabilisierung abgelöst zu werden. Die nachfolgende Tabelle liefert einen kurzen Überblick über die Vor- und Nachteile der jeweiligen Verfahren.
Verfahren | Nachteile | Vorteile |
---|---|---|
Bandnaht mit TightRope® |
|
|
Bandnaht mit resorbierbarer Kordel (z.B. PDS) |
| |
Bosworth-Schraube |
| |
Hakenplatte |
|
|
Transartikuläre K-Draht-Fixation mittels Zuggurtung |
|
Komplikationen
- Allgemeine Komplikationen siehe: Komplikationen nach Knochenbruch und Komplikationen nach Osteosynthese
- Komplikationen der Schultereckgelenksverletzung (unabhängig vom therapeutischen Regime)
- Postoperative Komplikationen
- Tendenz zu keloidartigen Narben
- Häufig unterschiedlich stark ausgeprägter Repositionsverlust
- Verfahrensspezifische Risiken, siehe: Diskussion der operativen Behandlungsmethoden der Schultereckgelenksverletzung
Es werden die wichtigsten Komplikationen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Nachsorge
Folgende Nachbehandlungsvorschläge basieren auf den Empfehlungen der DGOU [10]. Diese Schemata der physiotherapeutischen Nachbehandlung sind jedoch an den individuellen Heilungsverlauf anzupassen und sollten grundsätzlich auch unter Berücksichtigung der Maßgaben des Operateurs und/oder klinikinterner Standards erfolgen.
Für das allgemeine postoperative stationäre Management inkl. durchzuführender ärztlicher Verlaufskontrollen sowie für Empfehlungen zur Schmerztherapie und Thromboseprophylaxe siehe: Nachsorge in der Orthopädie und Unfallchirurgie
Nachbehandlungsschema bei osteosynthetischer Versorgung
Phase 1 – Ziel: Wundheilung und Abschwellung
- Tag 1–3 postoperativ: Bewegungsstabilität
- Ruhigstellung der Schulter (z.B. in der Armschlinge oder im Gilchrist-Verband)
- Freie Bewegung der Gelenke distal der Schulter ohne Limit
- Physiotherapeutische Anleitung zum Eigentraining und Verhaltenstherapie
- Röntgenkontrolle der Schulter vor Entlassung
Phase 2 – Ziel: Passive und aktive Beweglichkeit
- Tag 4–Woche 12 postoperativ
- Ca. 12. Woche postoperativ
- Röntgenkontrolle
- Metallentfernung in Abhängigkeit vom Röntgenbefund
Phase 3 – Ziel: Reintegration in den Alltag
- Nach der Metallentfernung: Belastungsstabilität
- Freie Beweglichkeit der Schulter in alle Richtungen
- Muskelaufbautraining
- Stütztraining
- Individuelle Belastungssteigerung bis zur Vollbelastung
Phase 4 – Ziel: Volle Belastbarkeit
- Ab 15./16. Woche postoperativ: Übergang zur Trainingsstabilität
- Funktionstraining, ggf. Rehasport und -nachsorge
- Ab 4. Monat postoperativ
- Wiederaufnahme des sportartspezifischen Trainings für zyklische Sportarten
- Ab 7. Monat postoperativ
- Wiederaufnahme von Kontaktsport des sportartspezifischen Trainings für azyklische Sportarten, inkl. Wurf- und Ballsportarten
Nachbehandlungsschema bei Versorgung mittels Bandnaht (z.B. TightRope®-System)
Phase 1 – Ziel: Wundheilung und Abschwellung
- Tag 1–3 postoperativ
- Ruhigstellung der Schulter im Schulter-Abduktionskissen (Tag und Nacht)
- Freie Bewegung der Gelenke distal der Schulter
- Physiotherapeutische Anleitung zum Eigentraining und Verhaltenstherapie
- Röntgenkontrolle: Entfällt
Phase 2 – Ziel: Passive und aktive Beweglichkeit
- Tag 3–Woche 3 postoperativ: Bewegungsstabilität
- Beginn mit Pendelübungen im Schultergelenk
-
Passives Bewegen der Schulter unter physiotherapeutischer Anleitung
- Abduktion/Adduktion: 30°/0°/0°
- Flexion/Extension: 30°/0°/0°
- Innen-/Außenrotation: 80°/0°/0°
- Keine Stützbelastung
- 3.–6. Woche postoperativ
- Tragen des Schulter-Abduktionskissens nur in der Nacht
- Aktiv assistierte Bewegung der Schulter bis 60° unter physiotherapeutischer Anleitung
- Abduktion/Adduktion: 60°/0°/0°
- Flexion/Extension: 60°/0°/0°
- Innen-/Außenrotation: 80°/0°/0°
- Keine Stützbelastung
- Ca. 6. Woche postoperativ
- Röntgenkontrolle
- 6.–8. Woche postoperativ
Phase 3 – Ziel: Reintegration in den Alltag
- 8.–12. Woche postoperativ: Komplette Bewegungsstabilität
- Freie Beweglichkeit der Schulter in alle Richtungen
- Muskelaufbautraining
- Dehnungsübungen
Phase 4 – Ziel: Volle Belastbarkeit
- 12.–16. Woche postoperativ: Belastungsstabilität
- Individuelle Belastungssteigerung bis zur Vollbelastung
- Stütztraining
- Ab 16. Woche postoperativ: Übergang zur Trainingsstabilität
- Funktionstraining, ggf. Rehasport und -nachsorge
- Ab 4. Monat postoperativ
- Wiederaufnahme des sportartspezifischen Trainings für zyklische Sportarten
- Ab 7. Monat postoperativ
- Wiederaufnahme von Kontaktsport und sportartspezifischen Trainings für azyklische Sportarten, inkl. Wurf- und Ballsportarten
Prognose
- I.d.R. gutes funktionelles Ergebnis (sowohl nach operativer als auch nach konservativer Therapie)
- Vollbelastung der Schulter nach ca. 3–4 Monaten möglich
- Posttraumatische AC-Gelenkarthrose in ca. 30% der operativ bzw. 50% der konservativ behandelten Fälle [1]
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2022
- S43.-: Luxation, Verstauchung und Zerrung von Gelenken und Bändern des Schultergürtels
- S43.0-: Luxation des Schultergelenkes [Glenohumeralgelenk]
- S43.1: Luxation des Akromioklavikulargelenkes
- S43.2: Luxation des Sternoklavikulargelenkes
- S43.3: Luxation sonstiger und nicht näher bezeichneter Teile des Schultergürtels
- S43.4: Verstauchung und Zerrung des Schultergelenkes
- Kapselanteil der Rotatorenmanschette
- Lig. coracohumerale
- Lig. glenohumerale (superius) (medius) (inferius)
- S43.5: Verstauchung und Zerrung des Akromioklavikulargelenkes
- S43.6: Verstauchung und Zerrung des Sternoklavikulargelenkes
- S43.7: Verstauchung und Zerrung sonstiger und nicht näher bezeichneter Teile des Schultergürtels
- Verstauchung und Zerrung des Schultergürtels o.n.A.
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2022, DIMDI.
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