Abstract
Im Rahmen von Unfällen reicht die Bandbreite an Verletzungen von leichten Läsionen bis hin zum lebensbedrohlichen Polytrauma. Entscheidend für ein möglichst gutes Outcome ist ein reibungsloser Ablauf und die qualifizierte Durchführung der folgenden medizinischen Versorgung.
Hierzu gehören zunächst Erste-Hilfe-Maßnahmen durch Laienhelfer sowie die schnelle Meldung des Unfalls. Nach Eintreffen von medizinischem Fachpersonal/Notarzt werden in der Regel erweiterte Maßnahmen zur Analgesie und Sicherung der Vitalfunktionen durchgeführt, zum Beispiel Sicherung der Atmung (ggf. Intubation oder Thoraxdrainage), Medikamenten- und Volumengabe sowie gegebenenfalls eine Reanimation. Im Anschluss sollte schnellstmöglich der Transport in ein spezialisiertes Krankenhaus erfolgen, in dem die klinische Primärversorgung durchgeführt werden kann.
Generell werden beim polytraumatisierten Patienten akut lebensgefährliche Verletzungen zuerst und alle anderen Verletzungen vorläufig versorgt. Eine definitive Versorgung wird nach der Stabilisierung der Vitalfunktionen bei Folgeeingriffen durchgeführt.
Ablauf
- Erstversorgung durch Laienhelfer/Meldung des Unfalls
- Erste ärztliche Maßnahmen
- Transport ins Krankenhaus
- Übergabe durch den Notarzt
- Klinische Erstversorgung
- Reanimationsphase
- Operative Phase I
- Stabilisierungsphase
- Operative Phase II
- Weiterführende Maßnahmen
Erstversorgung durch Laienhelfer
- Meldung des Unfalls: 112 ("5-W-Regel")
- Wo (ist der Notfall)?
- Was (ist passiert)?
- Wie viele (Verletzte)?
- Welche (Verletzungen bzw. Krankheitszeichen)?
- Warten (auf Rückfragen)!
- Ggf. Weitere (Gefährdungen)? Wann (ist es passiert)? Wer (meldet den Unfall)?
- Basic Life Support: Lebensrettende Sofortmaßnahmen durch Laien
- Lagerung: Bewusstlose, aber spontan atmende Patienten sollten in die stabile Seitenlage gebracht werden
- Ziel
- Offenhalten der oberen Atemwege durch Kopfüberstreckung
- Verhinderung einer Aspiration
- Durchführung
- Ausgangslage: Der Bewusstlose liegt flach auf dem Rücken, die Helferin kniet auf seiner linken Seite
- Anschließend greift sie seinen linken Arm und winkelt ihn an (90° in Schulter- und Ellenbogengelenk)
- Dann platziert sie seine rechte Hand auf der linken Schulter, sodass der rechte Arm über der Brust gekreuzt liegt.
- Daraufhin stellt sie das rechte Bein an und nutzt es als Hebel, um den Bewusstlosen auf die linke Seite zu drehen. Dabei wird die rechte Hand des Bewusstlosen auf seiner Schulter fixiert, was ein Stützen des Kopfes während der Drehung ermöglicht.
- Der rechte Oberschenkel liegt nach erfolgter Drehung im rechten Winkel zur Hüfte.
- Der Kopf wird anschließend vorsichtig überstreckt und mit der rechten Hand des Bewusstlosen fixiert, sodass der leicht geöffnete Mund der tiefste Punkt des Kopfes ist.
- Ist der Patient in die stabile Seitenlage gebracht, sollten Atmung und Kreislauf weiterhin regelmäßig kontrolliert werden!
- Ziel
- Rettung ggf. mittels Rautek-Griff
- Erste (ärztliche) Hilfe bei Eintreffen des Notarztes und/oder der Rettungsfachkräfte
Präklinische Primärversorgung
Es gibt keine starren Vorgaben zum Behandlungsablauf am Unfallort; es muss eine individuelle Abschätzung der Gesamtsituation und der Prioritäten erfolgen. Vitale Verletzungen sollten immer zuerst behandelt werden: Treat first what kills first! Hierbei hat sich ein Vorgehen nach dem cABCDE-Schema etabliert.
Sicherung des Unfallortes
- Beachtung des Selbstschutzes in potenziell gefährlichen Situationen
- Verkehrsunfall: Betreten einer Straße nur nach Absicherung
- Verdacht auf Gasvergiftung: Vorsicht vor Betreten von Räumlichkeiten, Schächten, Brunnen o.ä.
- Verdacht auf Elektrounfall: Trennen des elektrischen Gerätes von der Stromversorgung vor Patientenkontakt
Beurteilung des Bewusstseinszustandes
- GCS erheben
- Weiteres Vorgehen befundabhängig
- Bewusstsein (und Spontanatmung) vorhanden → Trauma-Check und ggf. stabile Seitenlage
- Bewusstseinsstörung oder Bewusstlosigkeit bei (teilweise) erhaltener Atmung → Trauma-Check bzw. Vorgehen nach cABCDE-Schema
- Bewusstlosigkeit mit fehlender Spontanatmung → Reanimation
- Siehe auch: Intubationskriterien bei Polytrauma
Körperliche Untersuchung
cABCDE-Schema: Polytrauma
- Bei polytraumatisierten Patienten Vorgehen nach dem cABCDE-Schema :
- c („Critical Bleeding“): Untersuchung auf komprimierbare kritische Blutungen; falls erforderlich: sofortige Behandlung (bspw. durch einen Druckverband )
- A („Airway“): Sicherung der Atemwege und Stabilisierung der Halswirbelsäule
- B („Breathing“): Untersuchung und Aufrechterhaltung der Atmung/Belüftung; sofern nötig: Beatmung
- C („Circulation“): Untersuchung und Aufrechterhaltung des Kreislaufs (Blutungskontrolle und Flüssigkeitszufuhr)
- D („Disability“): Erhebung des neurologischen Status
- E („Exposure“/„Environmental Control“): Entkleiden zur Untersuchung, Vermeidung einer Unterkühlung (Durchführung des Trauma-Checks i.d.R. nicht am Unfallort, sondern erst in der klinischen Versorgung)
Trauma-Check
-
Orientierende Untersuchung, insb. bei wachen Patienten
- Kurze Anamnese
- Kopf: Untersuchung des Kopfes (z.B. Pupillenreaktion, offensichtliche Verletzungen, Monokel- oder Brillenhämatom, Blutung aus Ohren, Nase oder Mund)
- Hals: Schmerzen? (Trauma der Halswirbelsäule)
- Thorax: Palpation, Auskultation und Perkussion (z.B. zum Ausschluss eines Pneumothorax oder von Frakturen)
- Abdomen: Inspektion und Palpation (z.B. zum Ausschluss penetrierender, stumpfer oder innerer Verletzungen)
- Becken: Prüfung der Beckenstabilität
- Wirbelsäule: Schmerzen der Wirbelsäule, neurologische Ausfälle
- Extremitäten: Fehlstellungen, Verletzungen, Durchblutung, Motorik, Sensibilität (kurz „DMS“)
- Kreislaufmonitoring: Blutdruckmessung, Herzfrequenz und -rhythmus, Kontrolle der Atmung, Pulsoxymetrie, EKG-Ableitung, Blutzuckerbestimmung
Therapie
- Atemwegsmanagement
- Sauerstoffgabe per Nasensonde oder
- Assistierte Beatmung über Gesichtsmaske oder
-
Sicherung der Atemwege mit
- Larynxmaske oder Larynxtubus (supraglottischen Atemwegshilfen)
- Intubation
- Koniotomie (Ultima Ratio!)
- Zum Vorgehen bei Atemwegsproblemen siehe auch: Notfallmanagement - Airway
- Koniotomie
- Definition: Durchtrennung des Lig. cricothyroideum medianum (zwischen Cartilago cricoidea und Cartilago thyroidea) zur Schaffung eines künstlichen Atemweges
- Indikation: Ultima Ratio bei Versagen aller anderen Möglichkeiten zur Oxygenierung (sog. „cannot ventilate, cannot intubate“-Situation)
- Durchführung siehe auch: Koniotomie - AMBOSS-SOP
- Sicherer Gefäßzugang: Legen von ein bis zwei großlumigen venösen Zugängen (z.B. am Handrücken) zur raschen Medikamentenapplikation und ggf. Volumensubstitution
- Thoraxdrainage bspw. bei Pneumothorax
- Medikamente
- Analgesie: Bspw. i.v. Fentanyl-Gabe bei starken Schmerzen
- Weitere Medikation (z.B. Volumensubstitution)
- Wundversorgung
- Blutstillung (z.B. Druckverband )
- Sterile Abdeckung von Wunden
- Initiale Frakturversorgung: Reposition (insb. bei starker Dislokation bzw. Luxation) und Retention in Schiene o.ä.
- Stabile Lagerung, bspw. mittels Vakuummatratze
- Immobilisierung
- Extremitäten entsprechend des Verletzungsmusters
-
Nach (vermutetem) HWS-Trauma: Anlage einer starren Zervikalstütze
- In der Praxis häufig Verwendung eines sog. Stifneck®
- Nutzen der Maßnahme nicht durch die Literatur belegt [1]
- Schutz vor Auskühlung, bspw. durch Isolierfolien oder erwärmte Infusionen
- Regelmäßige Reevaluation der klinischen Situation
- Transport: Nach Möglichkeit Transport des Patienten in ein Krankenhaus mit den benötigten Fachdisziplinen und Kompetenzen
Transport
- Bodengebundene Rettungsmittel
- Krankentransportwagen (KTW): Nur Transport von Patienten ohne Störung der Vitalfunktionen
- Rettungswagen (RTW)
- Notarztwagen (NAW, Fahrzeug mit Notarztbesetzung und Transportmöglichkeit für Patienten) / Notarzteinsatzfahrzeug (NEF, Notarztfahrzeug ohne Transportmöglichkeit für Patienten)
- Luftrettung: Rettungshubschrauber
- Seerettung
Klinische Primärversorgung beim Polytrauma
Grundlegende Ziele und Vorgehen
- Definition Polytrauma: Verletzungen mehrerer Körperregionen, bei denen mindestens eine oder die Kombination mehrerer Verletzungen lebensbedrohlich ist
- Übergabe des Patienten durch den Notarzt an Teamleiter der Notaufnahme/Schockraum
- Primäre Ziele
- Aufrechterhaltung/Wiederherstellung der Vitalfunktionen (Reanimationsphase)
- Diagnostik, Einschätzung und Akutbehandlung von Verletzungen lebenswichtiger Organe
- Voraussetzungen
- Interdisziplinäres Team
- Ausreichende Größe und adäquate materielle Ausstattung des Schockraums zur Schwerverletztenversorgung
- Möglichkeiten zur Bildgebung (Röntgen, Sonografie, CT)
- Ggf. Reanimation (Advanced-Life-Support)
- Stabilisierung der Vitalparameter (Vorgehen nach cABCDE-Schema)
Diagnostik
- Komplette körperliche Untersuchung (Bodycheck)
- Zeitbedarf so gering wie möglich halten (insb. bei instabilen Patienten)
- Gefahr der Auskühlung durch Entkleiden beachten
- Begutachtung der Körperrückseite: Vorsichtige Drehung insb. bei Verletzung des Achsenskeletts
- Ultraschalldiagnostik (eFAST) [2]
Radiologische Diagnostik
- Ganzkörper-Computertomografie (Polytrauma-CT) [3]
- Goldstandard zur detaillierten Diagnostik des Verletzungsmusters bei Polytrauma
-
Durchführung auch bei unauffälligem eFAST-Befund empfohlen sowie bei
- Störung der Vitalparameter (Atmung, Kreislauf, Bewusstsein)
- Hochenergetischem Trauma (bspw. Sturz aus großer Höhe, Verkehrsunfall mit hoher Geschwindigkeit)
- Relevanter Verletzung ≥2 Körperregionen
- Zeitnahe Durchführung empfohlen
- Untersuchungsumfang
- Alternativ: CT-Schädel, CT-Thorax oder CT-Abdomen als Einzeluntersuchung bei isoliertem Trauma
- Röntgen-Thorax-Untersuchung
- Indikation: Einzelfallentscheidung, falls keine CT durchgeführt wird
- Wenig Evidenz bei der Versorgung polytraumatisierter Patienten
- Wesentliche Pathologien (bspw. Hämato- und Pneumothorax) prinzipiell auch sonografisch darstellbar
- Weitere radiologische Untersuchungen leitsymptom- bzw. bedarfsadaptiert
Labordiagnostik
Die S3-Leitlinie "Polytrauma / Schwerverletzten-Behandlung" empfiehlt die frühzeitige und wiederholte Durchführung einer Basisdiagnostik (Blutgasanalyse, Gerinnungsparameter) sowie die Bestimmung der Blutgruppe. Weitere Laboruntersuchungen können sich an klinikinternen Standards orientieren und sollten in Abhängigkeit von der klinischen Situation durchgeführt werden [2][4].
- Blutgasanalyse (bevorzugt arteriell)
- Beurteilung insb. von Gasaustausch, Elektrolyt- bzw. Säure-Basen-Haushalt und möglicher Transfusionsindikation
- Überprüfung und ggf. Anpassung der therapeutischen Maßnahmen (bspw. Beatmung, Volumentherapie)
- Gerinnungsparameter
- Quick-Wert, aPTT, Fibrinogen und Thrombozytenzahl
- Bei (Trauma-induzierter) Koagulopathie: Frühzeitiger Einsatz viskoelastischer Testverfahren (bspw. ROTEM)
- Blutgruppenbestimmung und Antikörpersuchtest
- Möglichst vor Transfusion von Fremdblut
- Gleichzeitige Durchführung eines Bedside-Tests erwägen
- Thoraxtrauma (V.a. Myokardkontusion): Optional Troponin bestimmen
- Weitere Parameter nach Klinikstandard, bspw. Blutbild, Harnstoff, Kreatinin, LDH, CK, γGT, GOT, GPT
- Toxikologisches Screening erwägen, bspw. [5][6]
Therapie
- Schockraumphase
- Stabilisierung der Vitalparameter (Vorgehen nach cABCDE-Schema)
- Intubationskriterien bei Polytrauma
- Apnoe, Hypopnoe (Atemfrequenz <6/min) oder Schnappatmung
- Hypoxie (Sauerstoffsättigung <90%) trotz Sauerstoffgabe und nach Ausschluss eines Spannungspneumothorax
- Vigilanzminderung (GCS <9) bei schwerem Schädel-Hirn-Trauma
- Persistierende hämodynamische Instabilität (systolischer Blutdruck <90 mmHg) aufgrund eines Traumas
- Respiratorische Insuffizienz (Atemfrequenz >29/min) bei schwerem Thoraxtrauma
- Durchführung einer Intubation als Rapid Sequence Induction
- Intubationskriterien bei Polytrauma
- Vermeiden einer Trauma-induzierten Koagulopathie: Rahmenbedingungen der Gerinnung aufrechterhalten
- Normothermie: Einsatz von erwärmten Infusionslösungen, Wärmematten und Heißluftgebläse mit dem Ziel der Normothermie
- Normalisierung des pH-Wertes: Ggf. Azidoseausgleich
- Normokalzämie: Calciumsubstitution bei Hypokalzämie
- Gerinnung aufrechterhalten: Substitution gerinnungsaktiver Präparate, ggf. Transfusion von Thrombozyten, Erythrozyten und/oder Plasma (siehe auch klinisches Management bei hypovolämischem Schock und Transfusion bei hämorrhagischem Schock)
- Neuroprotektion (insb. bei SHT): Normoxie , Normokapnie , Normotonie
- Permissive Hypotension: Bei Patienten mit unkontrollierbaren Blutungen können niedrige systolische Blutdruckwerte bis 90 mmHg akzeptiert werden
- Kontraindikation: SHT
- Maximale Dauer: 60 min
- Stabilisierung der Vitalparameter (Vorgehen nach cABCDE-Schema)
- Operative Phase I
- (Temporäre) Versorgung der akut lebensbedrohlichen Verletzungen, ggf. simultan (z.B. Notfalllaparotomie, Notfallthorakotomie, Notfallkraniotomie, Beckenzwinge)
- Ggf. noch im Schockraum
- Stabilisierungsphase: Stabilisierung der Vitalfunktionen auf Intensivstation, vor definitiver operativer Versorgung
- Operative Phase II
- Operationen weiterführender Verletzungen wie offene Frakturen, Kompartmentsyndrom, Rückenmarkskompression, Verletzungen des Urogenitaltraktes etc.
- Weitere operative Phasen: Nach fortlaufender Stabilisierung können weitere chirurgische Eingriffe vorgenommen werden
Das Grundprinzip in der Polytraumaversorgung: Vital bedrohliche Verletzungen sollten immer zuerst behandelt werden ("Treat first what kills first!")!