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Morbus Menière
Abstract
Als Morbus Menière bezeichnet man eine Symptomtrias bestehend aus plötzlich auftretendem Drehschwindel, Tinnitus und akuter Hörminderung. Der Drehschwindel kann mit Übelkeit und Erbrechen einhergehen, die Anfälle dauern Minuten bis Stunden, oft berichten die Patienten zusätzlich von einem Druckgefühl in dem betroffenen Ohr. Im anfallsfreien Intervall zeigt sich meist eine Tieftonschwerhörigkeit und eine Untererregbarkeit des Vestibularorgans auf der betroffenen Seite. Ursächlich vermutet man einen endolymphatischen Hydrops mit Ruptur der Reissner'schen Membran. Im Akutstadium kann lediglich eine symptomatische Therapie mit Antivertiginosa erfolgen. Zur Prophylaxe der Anfälle gibt es verschiedene konservative und operative Therapieansätze.
Epidemiologie
Ätiologie
- Idiopathisch (ca. 90%)
- Genetisch bedingt (5–15%)
- Bei Auftreten im Kindesalter liegt häufig eine positive Familienanamnese vor [3][4]
Pathophysiologie
- Genaue Pathophysiologie ungeklärt, immunologische Ursachen werden diskutiert
- Endolymphhydrops: Lässt sich bei nahezu jedem Betroffenen nachweisen [5]
- Definition: Pathologische Zunahme der Endolymphe, die zu Dehnung und Riss der Reissner'schen Membran führt
- Folge: Vermischung von kaliumreicher (natriumarmer) Endolymphe mit natriumreicher (kaliumarmer) Perilymphe → Pathologisch erhöhte Kaliumkonzentration der Perilymphe → Depolarisation afferenter Hörnervenfasern
- Besserung des akuten Schwindelanfalls: Wahrscheinlich durch spontane Verklebung der gerissenen Reissner'schen Membran [6]
Symptome/Klinik
- Symptomtrias:
- Drehschwindel mit Übelkeit/Erbrechen: Akute Schwindelattacken von Minuten bis Stunden [1]
- Hörminderung: Zu Beginn der Erkrankung fluktuierendes Hörvermögen, v.a. im tiefen bis mittleren Frequenzbereich mit Druckgefühl auf dem betroffenen Ohr, im weiteren Verlauf pankochleäre Schwerhörigkeit bis zur Taubheit [5] [1]
- Tinnitus meist tieffrequent, rauschend
- Weitere Charakteristika
Der Morbus Menière ist typischerweise durch die Symptomtrias von anfallsartigem Drehschwindel, fluktuierender Hörminderung und Tinnitus gekennzeichnet! Die Erkrankung bleibt aber in der Praxis meist eine Ausschlussdiagnose, da die diagnostischen Möglichkeiten begrenzt und speziellen Zentren vorbehalten sind!
Verlaufs- und Sonderformen
- Lermoyez-Syndrom
- Ätiologie: Ebenfalls Endolymphhydrops
- Klinik: Bis auf einen Anstieg des Hörvermögens während des Anfalls nicht von einem Morbus Menière zu unterscheiden
- Therapie: Wie Morbus Menière
- Tumarkin-Krise [6][7]
- Ätiologie: Vermutlich Ruptur der trennenden Membranen im Sakkulus und dadurch spontane Bewegungen der Otolithen
- Klinik:
- Hinstürzen des Patienten durch plötzlichen Verlust des Strecktonus der von vestibulospinalen Bahnen versorgten Muskulatur und starker Drehschwindel
- Zusätzlich treten reißende Kopfschmerzen auf
- Therapie: Wie Morbus Menière
Diagnostik
Klinische Untersuchung
- HNO-Status: Insb. unauffälliger Trommelfellbefund
- Frenzel-Brille: Horizontaler Spontannystagmus, oft mit rotatorischer Komponente, die Richtung kann wechseln
- Stimmgabelprüfungen: Hinweis für Innenohrschädigung → Lateralisation (Weber-Versuch) ins gesunde Ohr, Rinne-Versuch beidseitig positiv
Diagnostische Kriterien der Bárány Society (2015) [1][8][9]
Wenn folgende Kriterien vorliegen, spricht das eindeutig für einen Morbus Menière
- ≥2 spontane Schwindelattacken über eine Dauer von 20 Minuten bis 12 Stunden
- Fluktuierende Symptomatik am betroffenen Ohr: Hörminderung, Tinnitus, Druckgefühl
- Audiometrisch erfasste Hörminderung
- Ausschluss anderer Ursachen
Apparative Diagnostik [10]
- Tonschwellenaudiometrie: Mittel- bzw. Tieftonschwerhörigkeit
- Überschwellige Audiometrie: Positives Recruitment (Endolymphhydrops führt zur Schädigung der äußeren Haarzellen → Lautheitsunterschiede werden durch den fehlenden Lautheitsausgleich verstärkt wahrgenommen)
- Elektrokochleographie [11][12]: Erhöhtes negatives Summationspotential auf der erkrankten Seite
- Kalorische Prüfung: Untererregbarkeit oder Ausfall des betroffenen Labyrinths
- Ableitung der VEMPs
- Primär zur Frühdiagnostik und Verlaufskontrolle
- VEMPs fehlen in 35–54% der Fälle bei Morbus Menière [13]
- MRT mit Kontrastmittel (Gadolinium i.v.): Ggf. Nachweis des Endolymphhydrops zur Sicherung der Diagnose und zum Ausschluss anderer Ursachen des vestibulären Schwindels [5][12]
- Dehydratationstest (Klockhoff-Test): Gabe von Diuretikum (Furosemid, Glycerol) führt zum „Ausschwemmen“ des Hydrops und dadurch zur Verbesserung der Hörminderung im Audiogramm [5]
Weiterführende Diagnostik
- MRT/CT Kopf zum Ausschluss eines Kleinhirnbrückenwinkeltumors oder anderer ZNS-Erkrankungen
- Serologie: Bei V.a. Borrelien, Herpes, Lues
- Elektroenzephalographie (EEG): Bei Morbus Menière normale akustisch evozierte Potentiale (AEP)
Differentialdiagnosen
Siehe auch: Differentialdiagnostik des Schwindels
Erkrankung | Schwindelsymptomatik | Hörminderung | Tinnitus | Begleitsymptome |
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Klassische Symptomatik bei Morbus Menière | ||||
Morbus Menière |
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Differentialdiagnosen des Morbus Menière [6] | ||||
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Vestibuläre Migräne [14][8][15][16] |
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Syndrom des dehiszenten Bogenganges [17][18]
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Akustikusneurinom |
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Multiple Sklerose |
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Lues |
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Die hier aufgeführten Differentialdiagnosen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Akuttherapie
- Symptomatische Therapie: Bettruhe, Antivertiginosa (z.B. Dimenhydrinat)
Prophylaktische Therapie [19][1][20][21][22]
- Medikamentös:
- Zur Prophylaxe der Anfälle: Histaminanaloga [22]
- In den USA werden auch Diuretika (Hydrochlorothiazide) zur Therapie des Morbus Menière verwendet, aufgrund der fraglichen Wirksamkeit und starken Nebenwirkungen ist diese Therapie in Deutschland nicht üblich
- Interventionell:
- Einlage eines Paukenröhrchens, evtl. zusätzlich je nach Stadium
- Gentamicin-Applikation: Wiederholte Applikation transtympanal in das Mittelohr im Abstand von mehreren Wochen [19]
- Glucocorticoid-Applikation: Wiederholte Applikation transtympanal
- Sakkotomie: Eröffnung des Schädelknochens im Bereich des Saccus (Teil des Gleichgewichtsorgans), sodass dieser sich ausdehnen kann
- Operative Verfahren in Einzelfällen: Neurektomie des Nn. vestibularis im inneren Gehörgang; Labyrinthektomie
- Einlage eines Paukenröhrchens, evtl. zusätzlich je nach Stadium
- Physiotherapie: Bspw. Gleichgewichtstraining und Gangschulung
Im Spätstadium nach ca. 9–10 Jahren lassen die Anfälle meist deutlich nach (sog. „Ausbrennen“), sodass in diesem Stadium häufig keine Therapie notwendig ist!
Berufe, die einen intakten Gleichgewichtssinn erfordern (bspw. Dachdecker, Taucher, Gerüstarbeiter), oder Berufe, bei denen Personen befördert werden (bspw. Busfahrer oder Pilot), dürfen nicht ausgeübt werden! Eventuell muss ein generelles Fahrverbot ausgesprochen werden!
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2019
- H81.-: Störungen der Vestibularfunktion
- Exklusive: Schwindel: epidemisch (A88.1), o.n.A. (R42)
- H81.0: Ménière-Krankheit
- Labyrinthhydrops
- Ménière-Syndrom oder -Schwindel
- H81.1: Benigner paroxysmaler Schwindel
- H81.2: Neuropathia vestibularis
- H81.3: Sonstiger peripherer Schwindel
- Lermoyez-Syndrom
- Schwindel: Ohr-Schwindel, otogen, peripher o.n.A.
- H81.4: Schwindel zentralen Ursprungs
- Zentraler Lagenystagmus
- H81.8: Sonstige Störungen der Vestibularfunktion
- H81.9: Störung der Vestibularfunktion, nicht näher bezeichnet
- Schwindelsyndrom o.n.A.
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2019, DIMDI.