- Klinik
Akzidentelle Vergiftungen (Intoxikation)
Abstract
Eine Vielzahl von Pflanzen, Medikamenten, Haushalts- oder Industriechemikalien kann bei oraler oder inhalativer Aufnahme zur Vergiftung führen. Im Zweifel sollte der Erste-Hilfe-Leistende, aber auch der behandelnde Arzt die Giftzentrale anrufen, um Handlungs- und Therapieempfehlungen zu bekommen. Bei verschiedenen Intoxikationen ergibt sich klinisch ein typisches Bild, so dass im Zusammenhang mit der Anamnese auf die ursächliche Substanz geschlossen werden kann. Je nach Giftstoff kann daraufhin mit einem Antidot reagiert werden. So lässt sich bspw. die durch Tollkirschen oder Atropin-Überdosierung ausgelöste Hemmung der Acetylcholinrezeptoren durch Physostigmin antagonisieren. Ein weiteres bekanntes Beispiel der stoffbezogenen Therapie ist die Verabreichung von Ethanol zur Behandlung einer Methanolintoxikation.
Gifte
α-Amanitin (Knollenblätterpilzvergiftung)
- Wirkstoffe: Phalloidin und Amanitin
- Wirkung
- Blockade der RNA-Polymerase → Hemmung von Transkription und Proteinbiosynthese
- Irreversible Bindung an F-Aktin → Hemmung von zellulären Transportvorgängen
- Klinik
- Therapie
Fliegenpilzvergiftung (Pantherina-Syndrom)
- Wirkstoff: U.a. Ibotensäure und Muscimol
- Klinik
- Erbrechen und Durchfall
- Anticholinerge Symptomatik (Mydriasis, trockene Schleimhäute, Tachykardie)
- Rauschzustand mit Halluzinationen
- Therapie
- Aktivkohle oder eine Entleerung des Magens können in der ersten Stunde eine weitere Aufnahme des Giftes reduzieren
- Supportive Maßnahmen (z.B. Rehydrierung)
- Bei sehr ausgeprägter anticholinerger Symptomatik kann die intravenöse Gabe von 1–2 mg Physostigmin erwogen werden
Schwarze Tollkirsche - Atropa belladonna
- Wirkung
- Atropin → Verdrängung von Acetylcholin
- Folge: Kompetitive Hemmung der muskarinergen Acetylcholinrezeptoren des parasympathischen Nervensystems
- Klinik: Anticholinerges Syndrom (Leitsymptome: trockene, gerötete Haut mit Fieber, Mydriasis, Tachykardie und Delir)
- Therapie
- Physostigmin
- Supportive Maßnahmen (z.B. Rehydrierung)
"Feuerrot, glühend heiß, strohtrocken und total verrückt“
Phosphorsäureester (Alkylphosphate) wie Parathion (E 605)
- Vorkommen: Insektizide, Malariabekämpfung, Fungizide, iatrogen als Miotika (Glaukomtherapie)
- Aufnahme: Über Haut oder Schleimhäute, bspw. von Respirations- bzw. Gastrointestinaltrakt (sog. Kontaktgift)
- Wirkung
- Irreversible Hemmung der Acetylcholinesterase mit konsekutiver Erhöhung der Acetylcholinkonzentration und Wirkung an muskarinergen und nikotinischen Acetylcholinrezeptoren
- Folge: Lebensbedrohliche Parasympathikusaktivierung
- Klinik: Cholinerges Syndrom
- Bradykardie, Miosis
- Gastrointestinale Symptomatik (Speichelfluss↑, Diarrhö, abdominelle Schmerzen, Stuhl- und Urinabgänge)
- Muskelzuckungen und -schwäche
- ZNS-Symptomatik (Ruhelosigkeit, Angst, Ataxie, Tremor bis hin zum Koma)
- Nikotinische Acetylcholinrezeptoren: Muskelzuckungen, die in Lähmungen übergehen können → Periphere neuromuskuläre Atemlähmung
- Charakteristika
- Knoblauch- oder Lauchgeruch der Ausatemluft
- Blaue Farbe: Speichel, Schleimhäute
- Diagnostik: Bestimmung der Acetylcholinesterase-Aktivität in den Erythrozyten
- Acetylcholinesterase-Aktivität↓
- Antidot
Bei der Behandlung unbedingt auf Selbstschutz (Handschuhe, Atemschutz) achten, kontaminierte Kleidung des Patienten entfernen und dessen kontaminierte Haut großzügig mit Wasser und Seife waschen!
Hauptgefahr bei Alkylphosphatvergiftung ist die periphere und zentrale Atemlähmung!
Blausäure, Cyanide (HCN, KCN, CN−)
- Vorkommen
- Metallindustrie
- Bei Verbrennung stickstoffhaltiger Stoffe oder polyurethanhaltiger Schaumstoffe
- Falsche Zubereitung von Maniokknollen
- Bei Kindern: Verzehr von Bittermandeln (5–10 Stück)
- Wirkung
- Blockierung der Atmungskette durch Bindung an das dreiwertige Eisen der Cytochromoxidase
- Hemmung der Zellatmung
- Inneres Ersticken
- Klinik
- Charakteristika
- Bittermandelgeruch der Ausatemluft
- Hellrote Totenflecken bei der Leichenschau
- Therapie
- Allgemein: Gabe von 100%igem Sauerstoff
- Bei inhalativer Vergiftung: Hydroxocobalamin (Vitamin B12a)
- Bei oraler Vergiftung : Methämoglobinbildner
- 4-Dimethylaminophenol i.v. (4-DMAP)
- Alternativ: Nitrit
- Im Anschluss an 4-DMAP oder Nitrit: Natriumthiosulfat i.v. (Na2S2O3)
Eisenvergiftung
- Epidemiologie: Eher selten, betroffen sind meist Kleinkinder (Ingestion von Eisentabletten)
- Symptome
- Zunächst hämorrhagische Gastroenteritis, Schocksymptomatik
- Falls Patient überlebt: Nach ca. 6 h beschwerdearmes Intervall
- Im Verlauf: Gefahr des toxischen Leber- und Nierenversagens, Bewusstlosigkeit, Atemdepression
- Antidot: Deferoxamin
Methanol (siehe dort)
Medikamenten-Intoxikation
Trizyklische Antidepressiva
- Wirkung: Wiederaufnahmehemmung von Noradrenalin, Dopamin und Serotonin, sowie u.a. eine Hemmung kardialer Natriumkanäle
- Klinik: Bei leichten Vergiftungen steht die zentrale anticholinerge Symptomatik im Vordergrund, bei höheren Dosierungen folgen v.a. Vigilanzstörungen, Krampfanfälle und Herzrhythmusstörungen
- Anticholinerge Symptomatik: Obstipation, Mundtrockenheit, Tremor, Tachykardie, Mydriasis
- ZNS: Reflexveränderungen, Verwirrung, Halluzinationen, Sedierung bis hin zu Koma, Krampfanfälle
- Herz und Kreislauf: Sinustachykardie, Reizleitungsstörungen, Hypotension, ventrikuläre Tachykardie (bis hin zu Kammerflimmern)
- Diagnostik
- EKG: Zur Einschätzung der Herzrhythmusstörungen
- Labor
- Vitalparameter (u.a. besonders auf Hypotension achten)
- Therapie
- Supportive Maßnahmen: Atemwege sichern, Oxygenierung, evtl. Volumengabe und Kreislaufstabilisierung
- Dekontamination
- Aktivkohle und ggf. Magenspülung
- In seltenen Fällen: Endoskopische Dekontamination
- Medikamentöse Therapie
- Antidot: Bicarbonat
- Bei schwerem anticholinergen Syndrom und Ausschluss einer QRS-Verbreiterung: Physostigmin
- Bei Arrhythmien: Antiarrhythmika (ausgenommen Klasse IA) und Defibrillation möglich
- Bei QRS ≥100 ms: Natriumbicarbonat
- Bei Krampfanfällen: Benzodiazepine
Physostigmin ist bei QRS-Verbreiterung kontraindiziert, da es die Herzrhythmusstörungen verschlimmern kann und im schlimmsten Fall zum Herzstillstand führt!
Barbiturate
- Wirkung
- Klinik: Bewusstseinsstörungen, Koma, Atemlähmung
- Forensik
- Holzer'sche Blasen: An Körperstellen mit Druckbelastung sind Blasen mit Barbiturat-Inhalt nachweisbar
- Therapie
- Beatmung, Schockbehandlung
- Forcierte Diurese
- Antidot: Natriumhydrogencarbonat
Benzodiazepine
- Klinik
- Bewusstseinsstörung
- Atemdepression
- Hypotonie
- Antidot: Flumazenil
Flumazenil hat nur eine Halbwertszeit von unter einer Stunde und muss daher gegebenenfalls nachinjiziert werden!
Lithium
- Klinik
- Ataxie
- Krämpfe
- Dysarthrie
- Therapie
- Sofortiges Absetzen von Lithium
- Magenspülung ohne anschließende Aktivkohlebehandlung
- Intravenöse Gabe isotoner Flüssigkeit zum Erhalt der renalen Clearance
- Hämodialyse
Lokalanästhetika
- Klinik
- Übelkeit, Schwindel
- Metallischer Geschmack
- Benommenheit, Verwirrung, Koma
- Krämpfe, Herzrhythmusstörungen
- Therapie
- Lipidinfusion
- Adrenalin (bei malignen Herzrhythmusstörungen)
- Diazepam (zur Behandlung der ZNS-Störungen)
Opioide
- Klinik: Miosis, Atemdepression, Koma, Hypothermie, Hypotonie
- Antidot: Naloxon i.v.
Naloxon hat nur eine Halbwertszeit von etwa 30 Minuten und muss daher gegebenenfalls nachinjiziert werden!
Paracetamol
- Klinik: Leberzellnekrose
- Antidot: ACC
Antidote - Überblick
Medikamente | Antidote | Wirkprinzipien |
---|---|---|
Anticholinergika | Physostigmin | Hemmung der Cholinesterase erhöht Acetylcholinspiegel |
Barbiturate | Natriumhydrogencarbonat | Alkalisierung des Urins führt zu vermehrter Ausscheidung |
Benzodiazepine | Flumazenil | Reversibler, kompetitiver Antagonist an der Benzodiazepin-Bindungsstelle des GABAA-Rezeptors |
Digitalis | Digitalis-Antitoxin | Xenogene Antikörperfragmente, die Digitalisglykoside binden |
Heparin | Protamin | Komplexbildung mit Heparin |
Paracetamol | N-Acetylcystein | N-Acetylcystein stellt notwendige SH-Gruppen zur Entgiftung von Paracetamol-Metaboliten zur Verfügung |
Phenprocoumon | Vitamin K (in schweren Fällen kann zusätzlich Prothrombinkonzentrat, Fresh frozen plasma oder rekombinanter Faktor VIIa verabreicht werden!) | Phenprocoumon ist ein kompetitiver Antagonist von Vitamin K, das bei Überdosierung substituiert werden kann |
Opioide | Naloxon, Naltrexon | Kompetitiver (reiner) Antagonist an allen Opiodrezeptoren |
Antidote weiterer Gifte | ||
Alkylphosphate (Parathion, E 605) | Atropin, Obidoxim | Abschwächung des parasympathomimetischen Effekts |
Blausäure (Cyanide) | Methämoglobinbildner | Das dreiwertige Eisen des Methämoglobins bindet Cyanide, so dass deren potentiell letale Wirkung auf die Zellatmung reduziert wird |
Metalle | Chelatbildner | Inaktivierung durch Chelatbildung |
Sonstiges
Lampenöl (Petroleum)
- Klinik
- Bei Aspiration nach wenigen Minuten Husten und Erbrechen
- Im Verlauf schwere Pneumonie mit Dyspnoe und Zyanose, zusätzlich zentralnervöse Symptomatik
Zigaretten (Nikotinvergiftung)
- Klinik
- Erbrechen, Blässe, Tachykardie, Schwitzen
- Hohe Mengen: Kreislaufdepression (RR, Herzfrequenz↓), Atemlähmung
- Therapie: Aktivkohle bis 60 min. nach Ingestion
Tenside (Haarshampoo, Allzweckreiniger)
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2019
T51.-: Toxische Wirkung von Alkohol
- T51.0: Äthanol
- Äthylalkohol
- Exklusive: Akuter Alkoholrausch oder Alkoholnachwirkungen, „Kater“ (F10.0), Pathologischer Rausch (F10.0), Trunkenheit (F10.0)
- T51.1: Methanol
- Methylalkohol
- T51.2: 2-Propanol
- Isopropylalkohol
- T51.3: Fuselöl
-
Alkohol:
- Amyl-
- Butyl- [1-Butanol]
- Propyl- [1-Propanol]
-
Alkohol:
- T51.8: Sonstige Alkohole
- T51.9: Alkohol, nicht näher bezeichnet
T61.-: Toxische Wirkung schädlicher Substanzen, die mit essbaren Meerestieren aufgenommen wurden
- Exklusive:
- Allergische Reaktion auf Lebensmittel, wie z.B.:anaphylaktischer Schock durch Nahrungsmittelunverträglichkeit (T78.0), Dermatitis (L23.6, L25.4, L27.2), Gastroenteritis (nichtinfektiös) (K52.‑)
- Bakteriell bedingte Lebensmittelvergiftungen (A05.‑)
- Toxische Wirkung infolge Lebensmittel-Kontamination, wie z.B.: Aflatoxin und sonstige Mykotoxine (T64), Blausäure (T57.3), Quecksilber (T56.1), Zyanide (T65.0)
- T61.0: Ciguatera-Fischvergiftung
- T61.1: Scombroid-Fischvergiftung
- Histamin-ähnliches Syndrom
- T61.2: Sonstige Vergiftung durch Fische und Schalentiere
- T61.8: Toxische Wirkung sonstiger essbarer Meerestiere
- T61.9: Toxische Wirkung eines nicht näher bezeichneten essbaren Meerestieres
T62.-: Toxische Wirkung sonstiger schädlicher Substanzen, die mit der Nahrung aufgenommen wurden
- Exklusive:
- Allergische Reaktion auf Lebensmittel, wie z.B.:anaphylaktischer Schock durch Nahrungsmittelunverträglichkeit (T78.0), Dermatitis (L23.6, L25.4, L27.2), Gastroenteritis (nichtinfektiös) (K52.‑)
- Bakteriell bedingte Lebensmittelvergiftungen (A05.‑)
- Toxische Wirkung infolge Lebensmittel-Kontamination, wie z.B.: Aflatoxin und sonstige Mykotoxine (T64), Blausäure (T57.3), Quecksilber (T56.1), Zyanide (T65.0)
- T62.0: Verzehrte Pilze
- T62.1: Verzehrte Beeren
- T62.2: Sonstige verzehrte Pflanze(n) oder Teil(e) davon
- T62.8: Sonstige näher bezeichnete schädliche Substanzen, die mit der Nahrung aufgenommen wurden
- T62.9: Schädliche Substanz, die mit der Nahrung aufgenommen wurde, nicht näher bezeichnet
T63.-: Toxische Wirkung durch Kontakt mit giftigen Tieren
- T63.0: Schlangengift
- Gift von Seeschlangen
- T63.1: Gift anderer Reptilien
- Gift von Echsen
- T63.2: Skorpiongift
- T63.3: Spinnengift
- T63.4: Gift sonstiger Arthropoden
- Insektenbiss oder -stich, giftig
- T63.5: Toxische Wirkung durch Kontakt mit Fischen
- T63.6: Toxische Wirkung durch Kontakt mit sonstigen Meerestieren
- T63.8: Toxische Wirkung durch Kontakt mit sonstigen giftigen Tieren
- Amphibiengift
- T63.9: Toxische Wirkung durch Kontakt mit einem nicht näher bezeichneten giftigen Tier
T64: Toxische Wirkung von Aflatoxin und sonstigem Mykotoxin in kontaminierten Lebensmitteln
T65.-: Toxische Wirkung sonstiger und nicht näher bezeichneter Substanzen
- T65.0: Zyanide
- Exklusive: Blausäure (T57.3)
- T65.1: Strychnin und dessen Salze
- T65.2: Tabak und Nikotin
- T65.3: Nitro- und Aminoderivate von Benzol und dessen Homologen
- Anilin [Aminobenzol]
- Nitrobenzol
- Trinitrotoluol
- T65.4: Schwefelkohlenstoff
- T65.5: Glyzeroltrinitrat, Sauerstoffsäuren des Stickstoffs und deren Ester
- 1,2,3-Propantriol, Trinitrat
- T65.6: Farben und Farbstoffe, anderenorts nicht klassifiziert
- T65.8: Toxische Wirkung sonstiger näher bezeichneter Substanzen
- T65.9: Toxische Wirkung einer nicht näher bezeichneten Substanz
- Vergiftung o.n.A.
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2019, DIMDI.